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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Angesichts der herrlichen Gotteswelt, ein feierliches Hochamt abgehalten. Beim Schalle des Glöckchens, welches das Sanctus verkündigt, werfen sich Hunderte von bunten Gestalten auf die Kniee, und mit brausendem Klange vereinen sich nun alle Stimmen der Andächtigen zu der herrlichen Melodie: „Großer Gott, Dich loben wir etc.“

Sich dem Eindruck dieses lebensvollen Vorganges zu entziehen, dürfte dem gleichgültigsten Naturell kaum möglich sein. Die ganze Menge scheint in diesem Augenblick nur dem Gedanken an einen freundlichen Gott der Güte hingegeben, und der heilige Friede der von Schönheit verklärten Natur rings umher muß selbst ein kaltes Gemüth mit sanftem Hauch berühren.

Kaum aber ist das letzte Wort des Priesters verklungen, als auch, ohne allen Uebergang, den Freuden dieser Welt gehuldigt wird. Die leichtbewegten Massen strömen auseinander, wie eine Procession geht es zurück über die kleine Brücke, und eilfertig sucht Jeder ein Plätzchen in den Gartenanlagen oder auf der Terrasse zu erbeuten. Am Eingange zu der engen Küche, die in den erhaltenen Räumen der Burg etablirt ist, wird ein Sturm nach dem andern auf die Hunderte von kleinen Bratwürsten gewagt, die, als officielles Gericht des Tages, vom hartbedrängten Restaurateur in immer neuen Auflagen herausgereicht werden. Das braune Bier schäumt in den Gläsern, zwei Musikchöre lassen ihre Klänge abwechselnd erschallen und ein volksthümliches Leben und Treiben entfaltet sich in allen Schattirungen. Allerwärts ertönt Plaudern und Lachen, die Gläser klingen, selbst die Dissonanz einer schreienden Kinderstimme, die mitunter erschallt, scheint zum Ensemble zu gehören; während die mit staunenswerther Ausdauer fortgesetzten Mahlzeiten entschieden einen Theil der Lustbarkeit ausmachen, wird auch der Tanz im Saale, trotz der Frühlingssonne, die hereinblitzt, von den jungen Bürgermädchen nicht verschmäht.

Den Freunden war es gelungen, ein gutes Plätzchen zu erobern und mit Ergötzen und manch launiger Bemerkung musterten sie das Treiben rings umher. In der Mauerecke, nahe der Brüstung, saß eine kleine Gesellschaft, die sichtlich den höheren Ständen angehörte und für die Blicke der beiden jungen Männer ein Magnet war, der sie unbewußt immer von Neuem anzog.

Die Gruppe bestand aus zwei Damen und einem Herrn. Letzterer, ein Stabsofficier von hohem Wuchse und einnehmenden Zügen, mochte ein Vierziger sein; sein dunkles Haar war an den Schläfen bereits ergraut, auf dem noch frischen, scharf markirten Gesicht zeigten sich Linien, die mehr das Leben als das Alter in manche Physiognomie zeichnet. Die eine der Damen war alt und hatte eines jener gutmüthigen Gesichter, die stets zugleich Erstaunen und Besorgniß auszudrücken pflegen; um so mehr diente sie ihrer Nachbarin zur Folie, einer Erscheinung von solch zarter Frische, daß kein erster Blick sie treffen konnte, ohne daß ein zweiter folgte und gefesselt verweilte. Das moderne Hütchen versteckte nichts von dem Reichthum der prachtvollen, aschblonden Flechten, die den kleinen Kopf belasteten, blaue Augen, die taubensanft blicken und doch Blitze sprühen konnten, drückten mit seltener Beredsamkeit jede Regung aus, und eine zarte, leicht aufgebaute Gestalt von libellenhafter Beweglichkeit trug diesen zierlichen Kopf mit großer Anmuth. Wie absichtslos trafen manche ihrer raschen Blicke im Fluge einen oder den Andern unserer Freunde, deren Conversation nach und nach in’s Stocken kam.

„Nun,“ sagte Schaumberg nach einer Pause, während welcher das Auge des Assessors wieder einmal nach jener Gegend gewandert und von diesem Ausflug ziemlich lange nicht zurückgekehrt war, „warum schmachtest Du hier aus der Ferne, und überschreitest nicht den gewaltigen Rubikon dieses nur zehn Schritt breiten Rasens?“

„Soll ich Dich heute vorstellen?“

„Nein!“ erwiderte Otto. „Geh nur, mir wird die Zeit nicht lang.“

Marbach erhob sich und trat an den benachbarten Tisch.

„Wie gerufen!“ nickte Helene Dalen ihm lebhaft entgegen, als er sie begrüßte. „Sie sollen mir gegen den Major beistehen! Wir sprachen von sommerlichen Reiseplänen, und da behauptet dieser Kriegsheld, das Reisen sei heut zu Tage seiner ganzen Romantik beraubt!“

„Was die Romantik des Reisens betrifft,“ lächelte der Assessor, „so liegt sie vor Allem im Reisenden selbst, und ich will gern zugeben, gnädige Frau, daß Sie aller Romantik, deren Sie bedürfen, auf Tritt und Schritt begegnen werden.“

„Mit Ihren Spötteleien ist mir hier nicht gedient,“ schmollte die schöne Frau, das Köpfchen schüttelnd. „Was aber hat die gegenwärtige Zeit und all ihre Prosa damit zu thun, daß Einem schon bei dem bloßen Gedanken das Herz schlägt, nun in die blaue Welt hineinzufahren, um Neues zu sehen und Neues zu hören? Wer könnte auch nur den Dampfwagen dahin sausen sehen, wenn er, etwas Lebendigem gleich, brausend und zischend, als der verkörperte, feurige Menschengeist das Land durchschneidet, ohne sich – ja, ich wage das Wort! ohne sich poetisch angeregt zu fühlen? Und der Sonnenschein, der auf grünen Blättern funkelt, die wir nicht knospen und werden sahen, die gute Stimmung, die jeder schöne Tag dem Reisenden als Mitgift bringt, die Wärme und Natürlichkeit, die uns aus wildfremden Gesichtern entgegen grüßt – das Alles sollte nichts mit Romantik zu thun haben?“

„Aber, Kind,“ warf die Cousine bekümmert dazwischen, „es hat mit dem Reisen doch auch seine zwei Seiten! Wenn man den Zug verpaßt, und wenn man den ganzen Tag mit aufgerecktem Kopfe in den Museen herumsteigen muß, um Bilder zu sehen, von denen man nicht weiß, was sie vorstellen, und wenn man nie dazu kommt, in Ruhe sein Strickzeug herauszunehmen –“

„Ja, und wenn man Morgens seinen Sonnenschirm und Nachmittags seinen Haubenbeutel im Gasthof liegen läßt etc. etc.,“ unterbrach Helene neckend die alte Dame. „Und doch läßt mich, trotz all dieser Noth, mein Cousinchen nicht im Stich, wenn ich’s, als ächter Zugvogel, im Lande nicht mehr aushalten kann.“

„Die Sonntagsstimmung freier Reisezeit fühlt Ihnen wohl Jeder nach,“ sagte der Assessor, dessen Blick die lebhaft Plaudernde nicht einen Augenblick verlassen hatte. „Es ist hoch anzuschlagen, daß dieser Genuß heut zu Tage nicht mehr das Monopol weniger Begüterten, sondern ein Gemeingut geworden ist, das Jedem einmal erreichbar bleibt.“

„Wir Soldaten haben triftige Ursachen, dem vielen Reisen, das jetzt Sitte geworden ist, nicht das Wort zu reden,“ fiel der Major ein, „denn zuletzt wird es jeden Krieg der Völker gegeneinander unmöglich machen. Sicher gewinnt das Bedürfniß weltbürgerlicher Gemeinschaft, das jetzt so allgemein durch die Völker geht, durch die eigene Anschauung fremder Gauen. Die jedem Lande eigenthümlichen Sitten werden vom Gedächtniß Dessen, der sich in freiester Stimmung ihnen anschloß, von Süd nach Nord, von Nord nach Süd getragen, manche Anschauung wird gemildert, manches Vorurtheil aufgeklärt. Das Interesse an Orten und Dingen, das früher mehr ein locales war, gewinnt allgemeinere liebevolle Bedeutung, und gern kommt Jeder in späterer Zeit der Erinnerung zu Hülfe und erzählt sich und Anderen das Geschaute wieder.“

„So wird es auch heute wohl nicht an Fremden fehlen, die unser liebes Frühlingsfest wie Brieftauben in die weite Welt hinaustragen,“ sagte Helene, heiter um sich blickend. „Welch ein Feiertag! Warum sitzen wir eigentlich hier so fest? wollen wir nicht lieber ein Weilchen umherwandern? Ich muß mir ansehen, wie sich die gefüllte Terrasse von drüben her ausnimmt!“ – Schon war sie aufgesprungen, die beiden Herren schickten sich an, sie zu begleiten.

„Mich dispensirst Du, ich werde den Platz hüten, nicht wahr, Kindchen?“ bat die alte Dame, und, fröhlich nach ihr zurückwinkend, wanderte Helene mit ihren Begleitern durch die Halle der Altenburg, dem Platze zu, wo der Altar stand. Auch dort war es noch sehr belebt, und jeden Augenblick streiften Vorübergehende aneinander.

„Wollen Sie mir nicht lieber den Arm geben, Helene?“ fragte der Major, als eben wieder ein kleiner Stoß ihn gegen sie gedrängt hatte.

„Mich führen lassen, heut’, wo ich fliegen möchte!“ rief die junge Frau. „Nein, daraus wird nichts!“ Mit geflügelten Schritten eilte sie bei diesen Worten ihren Begleitern voraus und lief wie ein Kind den grünen Wiesenabhang hinunter. Plötzlich aber sahen die Herren sie schwanken und mit einem unterdrückten Schrei in die Kniee sinken. Augenblicklich waren Beide an ihrer Seite, sie erhob sich lachend, erblaßte aber gleich darauf und biß die Lippen zusammen.

„Ich glaube wirklich, ich habe mir den Fuß verstaucht,“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_722.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)