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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Das ist auch die Ursache, warum wir das Gut verkauft haben.“

„Er lebt!“ flüsterte Toni wieder, welche sich noch immer von der Ueberraschung nicht zu erholen vermochte und eben beginnen wollte, zu fragen und weitere Aufklärung über Alles zu fordern, was ihr noch undeutlich und unmöglich schien. Da wurde von draußen durch den anbrechenden Morgen Geräusch von Schritten hörbar und Stimmen sich nähernder Menschen. „Heiliger Gott!“ rief sie auffahrend. „Die Stimm’ –“ sie wollte der Thüre zu, als dieselbe rasch geöffnet wurde und Frau Schulze hereineilte.

„Er ist da, mein Kind!“ rief sie. „Dein Bruder kommt, Dich zu sehen. Er hat meinen Brief erhalten. Bist Du stark genug? Darf ich ihn hereinführen?“

Die Kranke nickte nur mit seligem Lächeln. Ihr Blick hing an Toni, die wie verwirrt an dem nächsten Kasten stand, im Begriff zu entfliehen, und doch unfähig es zu thun. In demselben Augenblicke trat Günther in die Stube und flog mit ausgebreiteten Armen auf die Schwester zu, auf die er sich niederbeugte und sie mit heißen Küssen überdeckte. Auf der Schwelle, noch im Nachtgewande, blaß wie ein Geist oder Jemand, der einen vom Tode Erstandenen erblickt hat, stand die Funkenhauserin.

„Dank Dir, mein Bruder,“ flüsterte Alwine, „daß Du noch gekommen bist! Dank dem Himmel, daß er mir vergönnt, von Dir Abschied zu nehmen!“

„O, rede nicht so!“ rief Günther. „Noch ist die Gefahr nicht so dringend. Du wirst Dich wieder erholen.“

„Ich werde bald keiner Erholung mehr bedürfen,“ entgegnete sie matt. „Du kommst eben zur rechten Zeit. Vielleicht nur noch wenige Augenblicke, und Du hättest mich nicht mehr getroffen. Warum will Eure sorgliche Liebe mir verhehlen, was ich am besten fühle? Glaubt Ihr, daß ich mich vor dem Tode fürchte? Aber Du siehst ja nicht, Günther –“ fuhr sie mit schönem Lächeln fort. „Hier ist noch Jemand, den Du begrüßen mußt, – eine Freundin, die Dich todt geglaubt und als todt beweint hat.“

„Toni!“ rief Günther, sich gegen diese wendend, indem er ihr die Hand bot. „Du hier? Wirst Du meinen Gruß auch jetzt zurückweisen wie damals, als Du von jenem anderen Leidensbette kamst? Nein, Du wirst nicht – ich lese es in Deinen Augen! Du weißt jetzt, daß diese Hand schuldlos ist an jenem Blute. Die Versöhnung ist eingezogen in Deiner Brust; sonst träfe ich Mutter und Schwester nicht hier.“

Sie widerstrebte nicht, als er ihre Hand ergriff; Alwine winkte ihm lächelnd zu, mit Toni trat er an das Lager der Kranken. „Mutter,“ rief dieselbe, „komm’ hieher! Kommt her, Funkenhauserin! Du verlierst mich, liebe Mutter; für diese Welt müssen wir aus einander. Funkenhauserin, Ihr habt an Ambros so zu sagen einen Sohn verloren. Hier ist Ersatz für Euch Beide: Sohn und Tochter … Lasset diese gemeinsam Eure Kinder sein! Sie gehören einander ja längst, und sie wollen bei einander bleiben für’s ganze Leben; nicht wahr?“

Die Beiden antworteten nichts; aber sie sahen einander an, und wie vom gleichen Gedanken durchdrungen, sanken sie am Lager der Sterbenden in die Kniee.

„Aber das geht doch net,“ rief die Funkenhauserin, obwohl sie so ergriffen war, daß ihr dicke Thränen über die Wangen kugelten, „ein Stadtherr und eine Bauerntochter!“

„Ich verlange kein anderes Glück, als sie mir bieten kann,“ rief Günther.

„Ich kann sie auch net auf’m Hofe entbehren,“ rief die Bäuerin wieder; „ich kann sie net fort lassen von hier.“

„Das sollt Ihr auch nicht. Wir haben unser Gut verkauft. Wenn Ihr einwilligt, wollen wir bei Euch bleiben. Ich will ein Landmann sein mit Euch und nach dem Brauch Eures Landes. Ich will hier eine neue Heimath haben.“

„Aber es geht halt doch g’wiß und wahrhaftig net,“ schluchzte die Frau. „Vergeßt Ihr denn ganz und gar auf d’ Hauptsach’, auf den andern Glauben?“

„Mutter!“ rief Alwine. „Davon nichts mehr auf dieser Welt! Seht,“ fuhr sie, sich emporhebend, fort, indem die Mutter sie mit Kissen und Armen stützend unterfing, „die Sonne geht auf, herrlich, erhaben. Wohl mir, daß ich dich noch einmal sehe, seliges Gestirn des Lichtes!“ Sie breitete die Arme wie grüßend gegen die Sonne; dann tastete sie nach Günther’s und Toni’s Händen, legte sie fest in einander und schloß sie zwischen die ihrigen. „So verlobe ich Euch einander,“ sagte sie mit erlöschendem Tone. „Es ist Morgen; … liebet einander und seid glücklich … wir glauben all’ an Einen Gott.“

Ruhig, ohne Seufzer, ohne Zuckung glitt sie auf das Lager zurück und war entschlafen. Lautlos standen Alle um dasselbe gereiht; ihr Schmerz war zu groß, um Worte zu finden – wie ein frommer Spruch besagt, flog wirklich ein entschwebender Engel durch das schweigende Zimmer. –

Groß war der Andrang, als das fremde „lutt’rische“ Fräulein auf dem Kirchhof des Dorfes begraben wurde. Statt des Kaplans, der schnell abberufen worden war, um seines erprobten Eifers wegen ein Lehramt an einer geistlichen Erziehungsanstalt zu übernehmen, segnete der alte, edle Pfarrherr ihre letzte Ruhestätte ein, an der Kirchenwand, hart unter der Tafel, die an Ambros erinnerte. Der Pfarrer vollzog auch die Trauung, als unter noch zahlreicherem Zusammenströmen des Volkes das seltene Brautpaar zum Altare trat. Es war ein Ereigniß, wie es die ganze Gegend noch nicht geschaut, von Vielen mit unklarem Widerwillen betrachtet und mit heimlichem Groll; doch ging im Ganzen ein Gefühl der Befriedigung durch die offenen Gemüther des Landvolks: sie ahnten, daß wieder ein Kette weniger geworden auf Erden.

Einer der Fröhlichsten unter den Hochzeitsgästen war der alte Maler. „Es ist eine seltene Hochzeit, die wir feiern,“ rief er, als beim Mahle die Gläser an einander klangen. „Die Liebe hat zusammengeführt, was sich fremd und weit entfernt war; sie hat das Feindliche versöhnt – Liebe, die Zauberin, welche Abgründe überbrückt und Ewigkeiten ausfüllt! Möge sie immer mit diesem Paare sein, und sie wird es, wenn dasselbe nie verlernt, in dem großen Gebetbuche zu lesen, was vor ihr aufgeschlagen ist, – in der Natur! Ob der Süden oder der Norden uns geboren, die Herzen schlagen unter allen Himmelsstrichen denselben Schlag und sagen uns, daß wir Menschen sind, alle verschieden und doch einander so gleich, – Alle so vergänglich, daß jeder stündlich daran denken mag, den Andern als Menschen zu achten und gelten zu lassen, für sich allein und Jeden in seinem Volke. Wie schön ist der Grashalm, den der Frühling sprießen macht! Wenn allein betrachtet, ist er eins der erhabensten Wunder der Schöpfung; aber erst zu Millionen anderer gesellt, bildet er die herrliche[WS 1] Wiese! Schön ist der einzelne Baum mit den festen Wurzeln, dem kräftigen Stamme und der erhabenen Krone; aber die Herrlichkeit des Waldes ist höher als der Baum – im majestätischen Rauschen des Waldes hören wir Gottes Stimme! Viel und vielerlei sind der Bäume in ihm – Eiche und Buche, Laubholz und Nadelstamm, jedes soll wachsen nach seiner Art, frei und groß und doch wieder ein Theil des größeren Ganzen, denn miteinander machen sie ja erst den Wald! So steht es geschrieben im Buche der Natur, und ihm wollen wir folgen und in diesem Sinne dem Brautpaar doppelt Glück wünschen, dem Brautpaar, das uns vorangeht zur Versöhnung und zur Eintracht!“

Nach einigen Tagen stand die junge Frau nachdenklich unter der Thür des Funkenhauserhofes und sah in die Gegend hinaus. Günther trat hinzu. „Ich habe das Buch, das ich Dir im vorigen Jahre schenkte, noch nicht bei Dir gesehen, meine Liebe!“ sagte er. „Gieb es mir, damit ich den schwarzen Einband ändern lasse.“

Toni sah ihn lächelnd an. „Nein,“ sagte sie, „ich will’s net ändern lassen; es soll schwarz bleiben aus einem guten Grund. Ich will’s als ein Andenken und als ein Wahrzeichen dazu! Aber Du schau’ da hinaus in den Himmel über uns! Siehst, wie schön rein und klar er ist? Das Gewitter ist vorbei, und das Weiß und Blau ist doch stehn ’blieben!“ – –

Wo der Funkenhauserhof liegt? Das muß mich der Leser nicht fragen. Genug, daß ich ihn im Geiste dahingeführt und ihm zur Bekanntschaft eines glücklichen Paares verholfen habe. Mancher könnte in Versuchung kommen, dasselbe kennen lernen und die schöne Gegend, wo sie hausen, aufsuchen zu wollen. Ich denke aber, es ist besser, sie bleiben allein mit ihrem jungen und so neuen, gewiß aber dauernden Glücke.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: herrlich
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_694.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)