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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

das? Es stimmt nicht damit überein. Sind wir Ungläubigen von Gott gestraft, sind wir von ihm gezeichnet? Versagt er unseren Händen das Glück, das Gelingen, unserem Denken den Erfolg? sind unsere Saaten minder grün, unsere Ernten minder fruchtbar? Nein, der Ewige läßt Sonnenschein und Regen auch auf unsere Fluren herniederträufeln; er fragt nicht, wessen Glaubens der Säemann sei.“

„Das ist sein unerforschlicher Rathschluß,“ sagte der Geistliche nach einigem Zögern, „dem wir hienieden uns beugen müssen.“

„So thun Sie es,“ rief Alwine begeistert, „beugen Sie sich und versuchen Sie nicht, diesen Rathschluß zu durchdringen! Wenn er ein Geheimniß mit einem Schleier bedeckt hat vor irdischen Augen, so überlassen Sie es dem Ewigen, ihn aufzudecken! Greifen Sie ihm nicht vor und richten Sie nicht – Wir glauben All’ an Einen Gott.“

Das Gespräch war lauter geworden und hatte außer Toni auch einige der Hausgenossen herbeigelockt. Frau Schulze kam ebenfalls und wollte beruhigend dazwischen treten, aber Alwine hatte sie von sich gewiesen. Mit flammenden Augen stand sie da, einer Prophetin ähnlich, hoch aufgerichtet, wie in voller Lebenskraft; ihre Stimme klang so mächtig, als käme sie nicht aus einer kranken Brust, als entströmte sie einem Körper von ungebrochener Jugendfülle. Bald aber vermochte sie die ungewöhnliche Spannung nicht länger zu ertragen; die Schwäche des Körpers gewann die Oberhand über die Erregung der Seele. Mit den letzten Worten sank sie in die Arme der hinzu eilenden Mutter; erschrocken bemühten sich Alle, die Ohnmächtige in ihr Zimmer und auf ihr Lager zu bringen; Niemand achtete darüber auf den Kaplan. Als die Bäuerin nach dem ersten Schrecken sich nach ihm umsah, war er verschwunden. „Verzeih’ mir Gott die Sünde, wenn’s eine ist!“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Aber ich bin fast froh, daß er fort ist. Das Fräulein aber kann reden, daß es Einem durch’s Herz geht. Schade, daß die kein Bub’ ’worden ist!“

Die ungewöhnliche Erregung hatte Alwinen heftiger ergriffen, als es anfangs den Anschein hatte; sie vermochte nicht mehr das Lager zu verlassen und bat nur, es so zu stellen, daß sie von demselben aus durch das Fenster sehen und einen Theil der Gegend überblicken konnte. Die meiste Zeit lag sie in einem ruhigen Schlummer der Erschöpfung da; außer der zunehmenden Kürze des Athems hatte sie wenig zu leiden – sanft, wie ihr Leben gewesen, schien auch der Tod ihr nahen zu wollen. Die Mutter verließ sie so wenig als möglich. Sie wollte keinen Augenblick verlieren; denn es war auch dem Unbefangensten klar, daß ihre Lebensdauer nur noch nach Stunden zu zählen war.

Wieder war eine Nacht unruhig und schmerzvoll vorübergegangen. Frau Schulze, dem unablässigen Bitten und Drängen nachgebend, war einen Augenblick zur Ruhe gegangen. Tonerl hatte ihre Stelle eingenommen und bewachte mit liebenden Schwesteraugen den sanften und doch heißathmigen Schlummer der Kranken. In der Zimmerecke verstellt, flimmerte die Lampe; draußen aber begann schon der Morgen, und obwohl es in den Thälern noch vollständig dunkel war, fing es über den Bergen nach Osten hin schon zu grauen an; denn nicht auf einmal quillt das Licht hervor: langsam und steigend entfaltet es seinen unwiderstehlichen Glanz, damit die sterblichen Augen lernen, sich daran zu gewöhnen, und nicht erblinden von dem plötzlichen Uebergang. Tiefes Schweigen herrschte in der Stube. Nur ein Nachtfalter war vom Lampenschein verlockt durch das wegen der Kühle offen gelassene Seitenfenster hereingeflattert; er vermochte nun den Ausgang nicht wieder zu finden, und zerstieß sich die immer matter werdenden Flügel an der Decke und an den dämmernden Glasscheiben. Toni sah ernst vor sich hin; die Hände im Schooße und in den Händen den Rosenkranz, hatte sie nach ihrer frommen Weise für die Andersglaubende gebetet und war darüber in Sinnen und Denken verfallen, daß ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft träumerisch ineinander flossen. Die Vergangenheit zog an ihr vorüber, wie ein flüchtiges Schiff, mit schönen, lichten Gestalten besetzt, dahin gleitet durch eine heitere Gegend voll Sonnenschein. Dann kam es herauf mit finsterem und immer düsterer werdendem Gewölk; das Gewitter brach los und brachte die Nacht und den Blitz, der die Gräber beleuchtete, und hinter diesen in trostloser Finsterniß gähnte der Abgruud der Zukunft. Ueber ihrem Sinnen gewahrte sie nicht, daß Alwine erwacht war und, ohne sich zu regen, sie lange mit den milden, seelenvollen Augen betrachtete. „Du bist bei mir!“ sagte sie endlich leise. „Das ist mir lieb. Ich hätte Dich schon lange gern allein gesprochen, um Dir für Deine Sorge und Liebe zu danken.“

„Wie können Sie so was sagen, Fräulein?“ erwiderte Toni. „Ich thu’s ja gern.“

„Deine Sorge,“ fuhr Alwine fort, „ist mir doppelt wohlthuend, weil gerade Du, wenn auch ohne unsere Schuld, durch uns den bittersten Schmerz erfahren hast. Du hast Deinen Bräutigam verloren. Es war klug und gut, daß wir von allem Geschehenen nie gesprochen haben; aber unter uns Beiden besteht kein Grund, weshalb wir davon schweigen sollten. Ich habe süß geruht, und ein freundlicher Traum hat mich erquickt. Mir war, als zögen wir aufwärts durch den Wald nach der Blümelalm. Ich saß zu Pferde und Ambros stand neben mir und wollte mir eben die Hand reichen, mich herunterzuheben, als ich darüber erwachte. Sein Gesicht war so hell und freundlich, wie ich es selten gesehen. Der Sturm in seinem Gemüth hatte ausgetobt und ein stiller Ausdruck der Versöhnung lag in seinen Zügen.“

„So ist er auch in die Ewigkeit hinübergegangen,“ sagte Toni. „Ihr Name, Fräulein, ist das letzte Wort gewesen, das er auf der Zunge gehabt hat. Die Erinnerung an Sie hat ihn im letzten Augenblick noch dahin gebracht, daß er Allen verziehen hat.“

„Er war ein guter Mensch,“ flüsterte Alwine, „ein trefflicher Kern, wenn auch in stachliger Schale. Ich freue mich, ihm drüben wieder zu begegnen, frei von der unseligen Heftigkeit seines Gemüthes, die hienieden sein Unglück war und auch seinen Tod herbeiführte.“

„Seinen Tod?“ fragte Toni verwundert. „Ich wüßt’ net, wie Sie das meinen.“

„Ich kann mir wohl denken, daß Du nicht erfahren hast, wie es in jenem entsetzlichen Augenblicke zuging, als sich die Beiden in der Schlacht begegneten. Mein Bruder hat Alles aufgeboten, einen Kampf zu vermeiden. Er vertheidigte sich blos; aber Ambros in seinem wilden Grimme stürzte auf ihn los und rannte sich selbst das tödtliche Eisen in die Brust.“

Toni saß unbeweglich, mit weit geöffneten, erwartenden Augen. „Was sagen Sie? Woher können Sie das wissen?“

„Mein Bruder hat es mir erzählt.“

„Ihr Bruder!“ rief Toni enttäuscht. „Freilich, der kann’s wohl wissen. O, ich weiß net, was ich drum geben wollt’, wenn’s so wär’, wie Sie sagen. Ich hab’s ihm nie verzeihen können, daß er den armen Menschen net verschont hat.“

„Er konnte es nicht. Ambros kannte sich selbst nicht mehr vor Wuth. Er glaubte sich von meinem Bruder betrogen; er glaubte, Günther habe ihm heimlich Dein Herz abwendig gemacht; er glaubte ihn von Dir geliebt.“

Dunkle Gluth überzog Toni’s Angesicht; sie vermochte nichts zu erwidern.

„Und er hat Recht gehabt, wie ich jetzt sehe,“ fuhr Alwine fort; „denn Dein Erröthen zeigt, was ich manchmal geahnt. Du liebst meinen Bruder wie er Dich.“

Sachte, und so gut sie es vermochte, rückte sie auf dem Kissen näher und streckte Toni die Hand entgegen, die sich schweigend darauf niederbeugte. „Sie mögen es in der Ewigkeit ausmachen,“ sagte sie dann, nach einem Augenblick der Sammlung sich erhebend. „Sie stehen ja alle zwei vor unserem Herrgott.“

„Wie sagst Du?“ rief Alwine staunend. „Alle Beide? Du hältst meinen Bruder für todt?“

„Nicht? Ist er nicht todt?“ schrie Toni und sprang auf in freudigem Schrecken über die unerwartete Botschaft. „Er ist nicht im Kriege geblieben? Er lebt?“

„Er lebt. Er konnte uns auf der Reise nicht begleiten, weil er den Verkauf unseres Gutes besorgen mußte. Es war verabredet, daß er nach Tirol nachkommen sollte.“

„Er lebt … lebt!“ stammelte Toni, indem sie die Hände an Stirn und Herz drückte. „Und ich hab’ um ihn geweint, wie um ein’n Todten, und hab’ mein schwach’s Herz gegen Sie verrathen! Aber wie is denn das möglich? Haben Sie denn net selber g’sagt, daß Sie einen gleichen Verlust erlitten haben wie wir? Gehen Sie net selber in der Klag’?“

„Der Bruder meiner Mutter, ein höherer Officier, ist gefallen. –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_692.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)