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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 43.   1868.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.




Süden und Norden.
Eine bairische Dorfgeschichte von 1866.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


4. Zur Eintracht!

Ein Jahr war vorüber: der Sommer hatte wieder seine ganze Herrlichkeit ausgebreitet über Thäler, Gebirg und See; hätten auf dem Friedhof des kleinen Dorfes nicht die schwarzen Kreuze und die Leichensteine daran gemahnt, daß es ein Ort des Todes, eine Stätte der Trauer um die Vergangenheit sei, man wäre versucht gewesen, ihn für einen Garten zu halten, dem fröhlichen Leben gewidmet und der fröhlich hoffenden Gegenwart. Von den Grabhügeln war fast nichts zu sehen, so hoch waren sie mit Gras bewachsen, so dicht von Rankenrosen überhangen und mit anderen Strauchblüthen bedeckt; und die dahinter stehende große Linde war so überreich von den duftenden weißgrünen Blüthenflügeln übergossen, daß davor alle Gedanken an Grab und Vergänglichkeit verschwanden und das Auge des Vorüberwandelnden auf dem Grün und dem Flor so ruhig haftete, wie der bunte Falter, dem es gleichgültig ist, ob die Blume, die er umgaukelt, auf einem Grabe blüht oder auf einem Gartenbeet. Die Bevölkerung des am anstoßenden Schullehrerhause angebrachten Bienenstandes summte nur zwischen den Lindenzweigen und Blumenkelchen hin und wieder und dachte nicht daran, die zarten Flügel über die Mauer des Friedhofs hinauszuwenden, wo im verduftenden Thau die breiten Wiesenmatten schimmerten, wo der See blaute und flammte, wo die Berge und Wälder grünten und dunkelten bis hoch in den Himmel hinein, der Alles umfaßte, leuchtend und klar, wie ein einfacher, großer Gedanke.

An der Kirchhofmauer stand der Maler, der schon im vorigen Jahre das Thal durchwandert hatte; die Mappe auf die Brüstung gelegt, war er emsig daran, eine kecke Farbenstudie der Umgegend hinzuwerfen. Jetzt hielt er einen Augenblick inne und betrachtete sein Werk, wie es schien, nicht ohne Zufriedenheit; dennoch schüttelte er den grauen Kopf und rief: „Wir sind und bleiben doch Stümper, wir Maler! Unser Können ist ewig Stückwerk! Farbe und Gestalt, Licht und Schatten kann man wohl wiedergeben und festhalten, aber nimmermehr das große lebende Ganze! Um das zu vollbringen, müßte ich den Ton der Glocke mit hineinmalen können, der jetzt so ernst und doch so innig vom Thurme herniederklingt – ich müßte den Duft hineinmalen, der von der Linde strömt und von den Rosenbüschen und von den Grashalmen, die dort auf der Wiese unter der Sense fallen und im Welken den süßesten Duft ihres kurzen Daseins verhauchen wie einen letzten Athemzug.“

Vertieft im Schauen und Arbeiten, beachtete der Künstler nicht, daß in der Dorfkirche nebenan der Gottesdienst zu Ende ging; das Läuten verstummte, und die Kirchenbesucher wanderten über den Friedhof ihren Häusern zu, einzeln und hier und da an einem Grabe verweilend, um es mit einem Tropfen Weihwasser zu besprengen oder am Rosenkranz eine Gebetkoralle fallen zu lassen. Die meisten Besucher waren dunkel gekleidet, wenigstens die Frauen hatten schwarze Tücher und Schürzen um; denn es war ein Trauergottesdienst gewesen, wie sie üblich sind am Jahrestage der Stunde, die einen theuren Verwandten oder lieben Freund aus dem Kreise abgerufen hat, in welchem, wenn auch seine Stelle längst ausgefüllt ist, ihn doch mindestens an diesem Tage eine fromme Erinnerung zurücksehnt.

Der Friedhof war beinahe leer geworden; nur an der Rückseite der Kirche standen noch Tonerl und die Funkenhauser-Bäuerin vor einer in die Mauer eingesetzten Wandtafel, einer schlichten Kelheimer Platte mit schwarzer Inschrift und dem schwarzen Kreuze darunter. Unterhalb waren an einem Drahte Korallen wie an einem Rosenkranze zum Hin- und Wiederschieben angebracht, und auch ein schlichtes Blechkästchen für das geweihte Wasser fehlte nicht, daß den armen Seelen der Geschiedenen, die vielleicht für eine irdische Schwäche im Fegfeuer zu dulden haben, die Labung nicht fehle, die ihnen Kühlung giebt, wie ein Tropfen erfrischenden Thau’s den Halmen einer versengten Flur. Lag Ambros auch im fernen Frankenlande begraben, so durfte es doch in der Heimath an einem Denkzeichen für ihn nicht fehlen; es war der Tag des heiligen Cyrillus, der Jahrestag von Kissingen, und die Todtenfeier hatte seinem Andenken gegolten. In Gebet und stumme Betrachtung versunken standen die beiden Frauen lange da; die Funkenhauserin hatte anfangs den Verlust des einzigen und nächsten Verwandten, des vermuthlichen und nicht unwillkommenen Eidams, anscheinend leichter getragen als Tonerl, auf welcher neben der Last des Doppelverlustes, den sie erlitten, in seiner vollen Bitterkeit der Gedanke lastete, auf welche Art das Alles so gekommen, und wie sie vielleicht nicht ganz frei von der Verantwortung war, daß es so hatte kommen müssen. Jetzt aber hatten Beide die Rollen getauscht: die rüstige Bäuerin war bedeutend gealtert, noch weißer sah das Haar unter der dunklen Trauerhaube hervor, um die Augenwinkel und an den sonst so glatten Wangen hatte stiller, unausgesprochener Kummer seine leisen Fältchen tiefer eingegraben. In Tonerl dagegen hatte die Kraft der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 673. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_673.jpg&oldid=- (Version vom 2.11.2021)