Seite:Die Gartenlaube (1868) 654.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


der Feldweg so schmal, daß man das feuchte Gras mit den Händen streifen muß.

Mitten im grünen Laub liegt ein Haus verborgen, wo der Schatz daheim ist. Das Silberlicht glitzert in den Scheiben, der Brunnen vor der Thür rauscht, rothe Nelken hängen über das braune Geländer. Leise huscht das Mädchen hinauf und dann öffnet sich das Fenster und ein Bild mit blonden Zöpfen lugt herab. Lange noch bleibt ihr Liebster stehen, lange noch plaudern die Beiden. Es hört sie Niemand – der Brunnen rauscht …

Allein nicht allezeit verläuft die Scene so idyllisch. Gar oft verlegt auch der Begleiter seinen Standpunkt nach oben und die Geschichte kommt dahin, wohin es bei Romeo und Julie gekommen ist, nur daß unsere Beiden den Pater Lorenzo entbehrlich finden.

Von der Kanzel herab und von der Verwaltungsbehörde wird gewaltig gegen diese Promenaden geeifert, allein die Bauern denken: Ländlich, sittlich!

Die Neigung derselben, jedes Fest durch Excesse zu verherrlichen, hat auf Seiten der Polizei eine Neigung geweckt, solche Feste überhaupt zu beschränken. Die Polizeistunden werden verschärft gehandhabt; die Kirchweihen sind im ganzen Gau auf den nämlichen Tag verlegt worden. Für den Verwaltungsmann sind diese Maßregeln freilich nothwendig, für den Culturhistoriker geht doch manches Echte verloren. Volksthümlichkeit ist ein harter Kaufpreis für die Ordnung!

Nur auf den Almen herrscht noch die alte Ungebundenheit; denn diese liegen fünftausend Fuß über dem Polizeistrafgesetzbuch. Auch hier wird getanzt, ohne Handschuhe, ja bisweilen selbst ohne Schuhe, und dennoch ist’s unsäglich lustig!

Auf dem Heerde sitzt der Hüterbub und schlägt die Beine übereinander, daß die braunen Kniee am Feuer glänzen. Den Hut mit der Hahnenfeder hat er tief in die Stirn gerückt und bläst die Schwegelpfeife, das kleine Instrument, auf dem die Ländler so schneidig klingen.

Und wie er so ruhig sitzt und wie die Funken so knisternd hüpfen, da kommt es den Sennerinnen, die zum Haingart beisammen sind, mit einmal in die Füße! Wie gut ist’s jetzt, daß gerade heute die beiden Jägerburschen hier oben sind, die des Nachts den Hirsch im Wald anpürschen wollen! Auch ein Holzknecht hat gestern zugesprochen, und ehe man weiß, wie es kam drehen sich drei Paare im circulus vitiosus!

Der Raum ist freilich klein, allein was thut’s zur Sache? um so heller klingt das Stampfen, um so öfter geht’s herum!

Da droben in dieser friedlich primitiven Einsamkeit ist man auch duldsamer gegen die „Herrischen“; denn wenn Fremde auf den Hütten übernachten, so werden sie freundlichst zur Theilnahme an solchen Bällen aufgefordert. Und welches Mädchen sagt in diesem Falle Nein?

Kaum daß die ersten Jodler hinunterklingen zur unteren Hütte, wo die Herrschaften campiren, klettern die Fräulein im Plaid empor und lugen neugierig durch die halb geöffnete Thür. „Geht’s eini!“ ruft der Jägerbursch mit den Fingern schnalzend und jetzt huschen sie lachend herein – die Gräfin Helene und die sanfte Mathilde und das schöne Mariechen. Schmeichelnd faßt sie der Jäger bei der Hand, wo das Demantringlein funkelt, und im nächsten Reigen tanzen die drei vornehmen Fräulein. Ei, wie lustig ist doch Alles, was gegen den Brauch ist! Anfangs geht’s wohl ein wenig „daneben“; besonders die blonde Kleine ist widerspenstig. „Wart’,“ raunt ihr der Jäger in’s Ohr, „Du wirst schon noch folgen lernen, wenn einmal der Eh’tanz losgeht, wenn der Rechte kommt!“

Draußen um die Hütte flattert der Wind, das Almengeläute klingt aus der Ferne. Hin und wieder trat eines der Mädchen hinaus und horchte. Dort stand die blonde Kleine und strich mit den trotzigen Händchen das Haar aus dem heißen Kindergesicht.

„Ja, wenn der Rechte kommt!“ so dachte sie leise, und fragend sah sie einer Sternschnuppe nach, welche vom glitzernden Himmel tief in’s Thal hinabfiel.

Carl Stieler.     




Erinnerungen an Friedrich Schleiermacher.

Ich sollte und wollte Theologie studiren, natürlich in Berlin bei Schleiermacher, demselben Manne, dessen hundertjähriger Geburtstag am 21. November zu begehen ist. Er, der gefeiertste Mann des Tages, zog mich vor Allen an. Ich war einige Zeit vor Beginn der Collegien nach Berlin gekommen, hatte die Residenz noch nie besucht und fand deshalb immer neues Vergnügen darin, die Physiognomie Berlins und der Berliner zu studiren.

Zum ersten Mal sah ich in den nächsten Tagen Schleiermacher auf dem Wege nach dem Thiergarten. Doch war zunächst nicht er es, der meine Aufmerksamkeit erregte, sondern seine Begleiterin, eine Junogestalt, die in imponirender Gemessenheit einherschritt gleich der tragischen Muse, und neben der sich der kleine, bewegliche Schleiermacher merkwürdig genug ausnahm. Seine Begleiterin aber war die schöne Henriette Herz, seine intimste Freundin, mit der ihn Gewohnheit und Bedürfniß Jahrzehnte lang täglich zusammenführte.[1]

Die Vorlesungen begannen. Schleiermacher wollte ich zuerst hören, er sollte der Priester sein, der mich einführte in das Heiligthum der Wissenschaft. Noch lange vor dem „akademischen Viertel“ saß ich in ahnungsvoller Stimmung im Auditorium Schleiermacher’s; ehrwürdig erschienen mir die grauen Wände, die schon so viele seiner herrlichen Worte gehört, geweiht das Katheder, als eine Stätte, von der Licht und Begeisterung strömte. Das Auditorium hatte sich bald vollständig gefüllt; wie verhaltene Festfreude klang mir das Gemurmel der Stimmen der erwartungsvollen Studentenschaar. Ich habe später noch oft auf andern Universitäten und bei andern Professoren theologische Collegien gehört, eine Zuhörerschaft wie die Schleiermacher’s aber nirgends wieder gefunden. Wer sich einmal von ihm angezogen fühlte, kam immer wieder, so sah man auf denselben Plätzen dieselben Hörer. Gleiche Begeisterung, gleiche Ideale blitzten aus den intelligenten Gesichtern, wie ein vieltheiliger Körper saß die Schaar und in Allen wirkte und lebte der große Meister.

Mit schnellem Schwung öffnete sich die Thür; allgemeine Stille, allgemeines Erheben, während ein kleiner Mann mit behenden Schritten zum Katheder eilt, es war der Mann, den ich schon ein Mal gesehen hatte. Ich hatte nahe dem Katheder Platz genommen, mein Blick hing festgesaugt an den geistvollen Zügen des großen Lehrers. Sein höchst bedeutender Gesichtsausdruck zeigte Ruhe und Bewegung in wunderbarer Vereinigung. In den scharf ausgeprägten Zügen spiegelte sich der in Kämpfen errungene Charakter, seine feurigen Augen blickten eben so scharf forschend als innig theilnehmend über die Versammlung. Die sonst fest geschlossenen Lippen bewegten sich, sein Vortrag begann.

Waren seine Vorträge außerordentlich durch ihren Inhalt, so war auch die Methode seines Lehrens ganz einzig, ja die einzig richtige Methode. Wir nannten Schleiermacher unsern Sokrates, wenigstens war seine Methode die sokratische, nur in anderer zeitgemäßer Anwendung. Ich weiß noch, wie oft wir in unsern Gesprächen seine den herkömmlichen und den damals angewendeten Methoden entgegengesetzte bewunderten. Darin waren wir Alle einig: „Wer von Schleiermacher nicht denken lernte, der konnte es nirgends lernen.“ Seine Methode war die untersuchende, von der Erfahrung ausgehende, die entwickelnde Methode. Man erkannte in ihm die lebendige Werkstätte des erzeugenden Geistes, man beobachtete das Werden der Gedanken, man sah denken, man hörte denken, man fühlte es, und Jeder wurde zum Gedankenerzeugen bewegt. Sein ganzer Gedankenproceß war nur wie ein Aufruf zur Selbstentwickelung und zum Selbsterwerb dessen, was Jedem für seine Wahrheit gelten sollte. Denn geistige Selbstständigkeit

  1. Unter den Linden war einmal eine Caricatur ausgestellt: wie die „große“ Herz mit dem „kleinen“ Schleiermacher spazieren geht, so nämlich, daß sie ihn in ihrem Strickbeutel mit sich führt, aus dem nur oben der Kopf Schleiermacher’s heraussieht. Die Unterschrift des Bildes hieß: „Die Hofräthin Herz hat sich einen Ridicule angeschafft.“ (Ridicule heißt: „etwas Lächerliches“ und zugleich „ein kleiner Arbeitsbeutel der Frauen“.) Weder Schleiermacher noch die Herz waren dadurch im mindesten verletzt, und Henriette Herz selbst erzählt die Geschichte ganz harmlos in ihren „Erinnerungen“.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_654.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)