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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Händler machen alljährlich in den verschiedenen europäischen Handelsstädten ein gewinnbringendes Geschäft namentlich mit den Paradiesäpfeln. Auch beim festlichen Gottesdienste in der Synagoge wird der Strauß benutzt, er wird in Processionen umhergetragen und der Vorbeter schüttelt und wendet ihn beim Absingen verschiedener Psalmen in eigenthümlichen Schwingungen nach den verschiedenen Weltgegenden. Eine Erklärung haben verschiedene Rabbiner versucht und unter Anderem wegen der Zusammenstellung so verschiedenartiger Producte ein Symbol der Eintracht und Verträglichkeit oder der Gleichheit vor Gott darin gesehen. Unserer Auffassung und dem ziemlich klaren Wortlaute der biblischen Vorschrift nach, hat die Anordnung keinen anderen Zweck gehabt, als eine Verherrlichung des heiteren Festes durch grünen Schmuck.

Fragen wir nun nach der Bedeutung, welche ein solches Fest noch im Bewußtsein der heutigen jüdischen Religionsgenossen hat, so glauben wir nicht mit Unrecht behauptet zu haben, daß es noch nicht allen harmlosen Glanz und Schimmer seiner früheren Poesie verloren hat. Es wird noch gefeiert als ein großes Erntedankfest und zugleich als das Schlußfest des sommerlichen Festcyclus. Denn die fünf Hauptfeste der Juden fallen sämmtlich in den Sommer und vom Laubhüttenfeste, das seinen Schmuck schon den Blumen des Spätherbstes entnimmt, bis zum Passah- oder Osterfest, auf dessen in der Gartenlaube bereits früher geschilderten Seder-Tisch schon die ersten grünen Kräuter des Frühlings erscheinen, giebt es während des ganzen Winters im Judenthum keinen eigentlichen Feiertag. Das Fest der Laubhütten beschließt also eine schöne, erhebungsvolle Zeit und steht zugleich mit seinen schon kurzen Tagen und langen Nächten dicht an der Pforte der düsteren und unheimlichen Tage; es verbindet sich also mit aller der Bangigkeit und den ernsten Stimmungen, von denen die Seele der Menschen beim Herannahen des Winters ergriffen zu werden pflegt. Darum ist es nicht blos ein heiteres, sondern auch ein wehmuthvolles Fest und darum wird namentlich sein allerletzter Tag mit ganz besonderer Feierlichkeit begangen. Er heißt der Tag der Gesetzesfreude und wird in den Synagogen durch processionsartiges Umhertragen der in der heiligen Lade befindlichen Thorahrollen (fünf Bücher Moses), in den Häusern durch Jubel und Tanz, durch fröhliche Mahlzeiten und ausgelassene Lustigkeit gefeiert. Auch ein Fest der Kinder ist dieser Tag. Mit bunten Fähnchen, auf denen brennende Lichter stecken, erscheinen sie in der Synagoge und schreiten dem Umzuge voran.

A. Fr.




Drei Salons.

Diese bangen, diese süßen
Zauberhaften Töne müssen
In das Land der Schatten dringen
Und die Todten wiederbringen.
 Lenau.

Ein Zauber ohne Gleichen strömt von den Compositionen Chopin’s aus. Wer jemals geliebt und gelitten, erliegt ihm ohne Rettung. Der Pulsschlag jener echten großen Leidenschaft, die so selten geworden in der Welt, durckzuckt sie mit hinreißender Gewalt. Wir empfinden mit einem Schauer des Entzückens, wie nur das Herz, ein großes, glühendes Herz der Boden sein konnte für diese wilden und schönen Blüthen der Chopin’schen Muse, und fühlen uns immer von Neuem versucht, eben deshalb ihrem ersten Keimen und Knospen nachzuforschen.

Wo tauchten sie denn zuerst auf, jene Mazurken, Walzer und Polonaisen mit ihren seltsamen bezaubernden Harmonien und Dissonanzen, und der Lust und dem Leid ihrer Accorde? –

Die Aristokratie Warschaus hatte an einem schönen Novembertag des Jahres 1825 eine Schlittenfahrt veranstaltet zu Ehren eines hohen und seltenen Gastes, des Fürsten Anton Radziwill, der auf der Reise nach Nieborow, seinem Schlosse, einige Tage in der alten Warszawa Rast hielt. Im Schlosse selbst war die Dienerschaft des Grafen bereits am Morgen eingetroffen und Alles war zum Empfange der Gäste bereit, als die Schlitten in der Dämmerung in dem Schloßhofe anlangten. Als die Nacht hereinbrach und man sich in dem Speisesaal des Schlosses versammelte, da hätte wohl Niemand in jenen Duftgestalten, aus Flor und Spitzen gewebt, jene pelzumhüllten Schlittenerscheinungen wiedererkannt, die kleinen Zofen hatten, trotz aller Versäumnisse, ihre Schuldigkeit gethan, eine Schaar Feen schien auf die arme Erde herabgeschwebt zu sein.

Die Gräfin Potocka in rosa Atlas, eine reizende junge Frau, machte die Honneurs mit bezaubernder Grazie, und der Fürst Radziwill saß neben ihr und der schönen Fürstin Czartoriska, deren herrliche Gestalt und üppiges Haar an die Frauen des Giorgione erinnerte. Die Stimmung der vornehmen Gesellschaft war eine ungezwungen heitere, und mit sichtlichem Interesse flogen die Blicke des hohen Gastes über diese glänzende Versammlung hin.

Es war bereits gegen das Ende des Soupers, als die Gräfin sich zur Fürstin wandte mit der Frage: „Wo ist unser Fréderic Chopin? Ich sehe nur Ihren Sohn drüben im Speisezimmer der Jugend, nicht aber seinen Freund.“

Die Fürstin neigte langsam das schöne Haupt und antwortete: „Wie können Sie denken, mon aimable amie, daß Chopin sich der Tafelstunde erinnern sollte in dem Schlosse, wo Sobiesky starb! War er doch bei dem Gedanken, diese geweihte Stätte betreten zu dürfen, wie im Fieber. Gleich nach dem Aussteigen lief er auf die Terrasse, wo der Held auf- und niederzuwandeln pflegte. Ich sah ihn seitdem nicht wieder!“

„Dann ist Ihr Schützling auf meinen Wegen gewandelt,“ sagte Fürst Radziwill, „denn auch ich hätte fast die Tafelstunde vergessen, auch ich feierte das Andenken des großen Mannes, und es war im Ahnensaal, als die zierliche Gestalt eines Knaben an mir vorüberstreifte. Wer ist der Glückliche, der sich der Huld der schönsten Frauen Polens erfreut?“

„Ein Musikgenie, ein Kind von fünfzehn Jahren aus Zelazowa Wola, der Spielgefährte und Studiengenosse meines Sohnes Borris, der mit zärtlicher Liebe an ihm hängt,“ antwortete die Fürstin. „Sein Herz für sein Vaterland und seine Freunde entzückt mich nicht minder als sein Talent. Ich hoffe –“

Ein Ausruf des Fürsten unterbrach sie. „Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber ich bin plötzlich selber fassungslos. In diesem Augenblick bemerke ich, daß mich ein Unfall betroffen: ich verlor ein theueres Kleinod. Sehen Sie hier diese Kette. Sie trug eine Kapsel mit dem Bilde meines Kindes. Und heute ist Elisabeth’s Namenstag!“

Man suchte und ertheilte Befehle an die Dienerschaft, die Tafel wurde aufgehoben, der Fürst zog sich bleich und aufgeregt in seine Zimmer zurück – das Fest schien zerstört. Wohl eine Stunde verging, die Gesellschaft fand sich in dem Musiksaal wieder zusammen; von Zeit zu Zeit trat einer der Diener an den Grafen oder die Gräfin heran, um zu melden, daß alle Nachforschungen vergebens.

Die Hauptperson des Festes fehlte, man stand in rathlosen oder leise flüsternden Gruppen beieinander und eine bange Besorgniß wehte wie ein kalter Lufthauch durch die prächtigen Räume. Durfte man sich unter diesen Verhältnissen der gehofften Freude des Tanzes hingeben, ohne die Rücksicht auf den vornehmsten Gast zu verletzen? Und ohne Tanz war doch kein Fest denkbar. Wie viele Herzen hatten schon in der sichern Erwartung auf einen improvisirten Ball höher geschlagen! Welche Pläne und Hoffnungen, welche Fülle von Freuden wurden durch diesen kleinen grausamen Zufall zerstört!

Da wurde plötzlich die Thür des Saales aufgerissen und ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren erschien auf der Schwelle. Hoch und schlank aufgeschossen, in einfach dunkler polnischer Tracht, frappirte sein Kopf in diesem Moment durch eine ungewöhnliche Schönheit. Das zarte, feingeschnittene Gesicht glühte, die großen Augen leuchteten. „Ich habe das Bild auf der Terrasse Sobiesky’s gefunden!“ rief er mit dem Ausdruck des Triumphs und eilte auf die Gräfin zu, „o seht nur her!“ Er hielt ihr eine goldene Kapsel entgegen, deren Deckel aufgesprungen war. Ein Mädchenkopf, der Kopf eines bezaubernden Kindes wurde sichtbar. „Saht Ihr je etwas Lieblicheres?“ fragte er aufgeregt. „Es ist ein Engel!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_632.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)