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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)


fromm? Fast möcht’ ich fürchten, daß mich zu Haus ein Unglück erwarte!‘ Ich lachte sie aus, und indem ich neben ihr herritt und ihr Pferd am Zügel führte, erreichten wir das Schloß. Da bemerk’ ich eine fremde Droschke auf dem Hofe, ich frage, wem sie angehört, und man sagt mir, ein Herr, der seinen Namen nicht habe nennen wollen, erwarte mich hier im Cabinet. Ich begab mich zu ihm. In dieser Ecke saß ein bestaubter, langbärtiger Mann, forschend betracht’ ich ihn.

‚Du kennst mich wohl nicht mehr, Herr Graf?‘

‚Sylvio!!‘ – Ich gesteh’s, meine Haare sträubten sich empor.

‚Ich bin nun an der Reihe!‘ knurrte er, ein Pistol aus seinem Kasten ziehend, ‚bist Du jetzt bereit?‘ Stumm neige ich mein Haupt, sein Recht ihm zuerkennend, messe zehn Schritte ab, stelle mich in jene Ecke und bitte ihn, rasch zu enden, ehe meine Gattin wiederkehren könne.

‚Ich kann nicht deutlich sehen, laß erst Lichter kommen.‘

Ich klingelte, man brachte das Verlangte. Ich stellte mich zum zweiten Mal an meinen Platz. Er zielt – ich zählte die Secunden. Nach einer Minute etwa – mir däuchte sie ein Jahrhundert – sagt er: ‚Nein, das gefällt mir nicht! Ich bin es nicht gewohnt, auf Unbewaffnete zu schießen, d’rum fangen wir von vorne wieder an! Komm’, ziehen wir um den ersten Schuß!‘

Mein Kopf verwirrte sich, ich glaube, daß ich mich anfangs sträubte, daß wir zwei Zettel aus seiner von mir durchschossenen Mütze zogen – ich hatte wiederum den ersten Schuß.

‚Du hast ein teufelmäßiges Glück, mein lieber Graf!‘ sagte er mit einem Lächeln, das ich nie vergessen werde; dann – ich weiß nicht, wie’s geschah – ich schoß und traf statt meines Gegners hier dies Bild.“

Des Grafen Antlitz war purpurroth geworden, das der Gräfin leichenblaß.

„Nun erhob Sylvio sein Pistol,“ fuhr der Graf fort, „und dies Mal, das sagte mir seine Miene, hatt’ ich keine Schonung von ihm zu erwarten. Mit einem Male springt die Thür auf, und Nadejda stürzt mit einem Schrei an meine Brust. Ihre Gegenwart gab mir die Besinnung wieder, ich breche in ein helles Gelächter aus: ‚Kleine Thörin,‘ sagte ich, ‚siehst Du nicht, daß wir nur spaßen? Es gilt ’ne Wette. Wie kann man nur so furchtsam sein? He! trink’ ein Glas Wasser, dann komm wieder, daß ich Dir einen alten Freund vorstellen kann.‘

Sie sah mich angstvoll, zweifelnd an. ‚Mein Herr, bei Ihrer Seele Seligkeit beschwör’ ich Sie,‘ wandte sie sich an Sylvio, ‚ist’s wirklich nur ein Spaß?‘

‚Versteht sich, schöne Gräfin,‘ höhnt sie Sylvio, ‚lauter Spaß! Wir Beide haben’s in Gewohnheit mit einander Spaß zu treiben. Eines schönen Abends schlug Ihr Herr Gemahl mich in’s Gesicht – aus Spaß! Das andere Mal schoß er mir eine Kugel durch die Mütze – auch aus Spaß! Heut’, wiederum aus Spaß, fehlt mich sein Schuß zum zweiten Male, dort sitzt die Kugel, die er mir bestimmte, in dem Bilde! Jetzt aber will ich auch ’mal spaßen!‘

Bei diesen Worten hebt er wieder sein Pistol zur Höhe meines Herzens. Da wirft mit lautem Schrei Nadejda weinend sich zu seinen Füßen.

‚Schämst Du Dich nicht?‘ ruf’ ich bei diesem Anblick ihm zu, ‚schieß, mach’ ein Ende!‘

‚Nein,‘ sagt er und setzt den Hahn in Ruhe, ‚ich hab’ Dich zittern sehen – Du fürchtest den Tod!‘

Damit wandte er sich zur Thür, auf der Schwelle aber dreht er sich nach dem Gemälde hin, spannt den Hahn, und ohne erst zu zielen, gab er Feuer. Daß ich an seiner Sicherheit nicht zweifeln möge, hatte er seine Kugel auf die meine drauf gesetzt. Meine Leute wagten nicht ihn aufzuhalten, in stummem Schrecken ließen sie ihn ziehen. Sylvio habe ich nicht wieder gesehen, er hatte wieder Dienst genommen und ist, wie ich höre, in Sebastopol gefallen.“




Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens.
Nr. 2. Das Laubhüttenfest.

Als Felix Mendelssohn einst an einem mondhellen Septemberabend über den sogenannten Brühl in Leipzig schritt, stieß er im auf- und abwogenden Gewühl der charakteristischen Gruppen, welche zur Meßzeit diese verkehrsreiche Gegend bevölkern, auf die patriarchalische Gestalt eines greisen Juden, der eben segnend seine Hände auf das niedergebeugte Haupt eines vor ihm stehenden Knaben legte und diesen sodann mit zärtlicher Innigkeit in seine Arme schloß.

Derartige Genrebilder aus dem jüdischen Religions- und Familienleben gehören während der Messe auf dem Leipziger Brühl nicht zu den Seltenheiten und die Vorübergehenden beachten sie kaum. Für den gemüthreichen und leicht erregbaren Tondichter aber hatte die niemals von ihm gesehene malerische Scene etwas so Feierliches und Ergreifendes, daß er überrascht stehen blieb und die kleine Gruppe im Lichte des Vollmonds betrachtete. Dem Greise war der theilnahmvoll auf ihm ruhende Blick des Fremden nicht entgangen. Er griff verlegen an seinen breitkrämpigen Hut und sagte: „Verzeihen Sie, mein Herr, wir beginnen heut Abend eines unserer hohen Feste, wo es Brauch ist, unseren Kindern und Enkeln den Segen zu ertheilen. Aber wir sind hier fremde Leute und nur auf enge Schlafstätten angewiesen. Darum müssen wir häufig von unseren Gebräuchen auf der Straße verrichten, was sonst in der eigenen Behausung geschieht.“

Der ruhige, gebildete Ton und das ziemlich reine Deutsch, in welchem diese Worte von einem ärmlich gekleideten polnischen Juden gesprochen wurden, erhöhten die Aufmerksamkeit des Componisten. Er richtete sein Auge auf das bleiche Gesicht des neugierig zu ihm aufblickenden Knaben und erwiderte in seiner jovialen Weise: „Es hat mich gefreut, daß Sie den Knaben so lieb haben und daß er Ihre Liebe so herzlich erwidert. Aber er sieht schwächlich und leidend aus. Warum haben Sie ihn so weit her mit sich gebracht?“

„Damit er ein Mensch werden soll, lieber Herr, was bei uns zu Hause, im Innern Rußlands, nicht möglich ist,“ entgegnete wehmüthig der alte Mann; „er ist meiner Tochter Sohn, ein gutes und fleißiges Kind, die Freude unseres Lebens, es kostet uns großen Schmerz ihn von uns zu lassen, aber bei uns ist’s noch finster, da muß er mit all’ seiner Lust und Liebe verloren gehen. Darum habe ich meine letzten Groschen zusammengerafft und ihn mit nach Deutschland genommen. In Berlin ist eine große und reiche Judengemeinde. Dort will ich mit ihm zu wohlhabenden Glaubensgenossen von Thür zu Thür gehen und so lange ein Bettler sein, bis ich ihm einen Platz in einer guten Schule und den nothdürftigsten Unterhalt verschafft habe. Für das Weitere wird Gott und sein guter Wille ihm beistehen. Ist doch auch der große Weltweise Moses Mendelssohn einst als ein blutarmer, schwächlicher Judenknabe nach Berlin gekommen und doch nach überstandener Noth und Kümmerniß einer der verehrtesten Männer seines Vaterlandes und ein Licht in seinem Volke geworden. Mögen seine Tugenden meinem verlassenen Kinde ein Vorbild bleiben, ich erzähle ihm täglich davon und kann ihm in unserer Lage nichts Besseres zurücklassen.“

Felix Mendelssohn suchte die Bewegung zu verbergen, welche diese plötzlichen Erinnerungen an seinen Großvater in ihm hervorriefen. Einer Berliner Dame aber, welcher er später den ganzen Vorgang erzählte, legte er das Geständuiß ab, daß an jenem Abende auf den Straßen Leipzigs zum ersten Male eine Regung edlen Ahnenstolzes durch seine Seele gezogen sei, daß er zum ersten Male ein Gefühl wehmüthiger Erhebung empfunden, bei dem Gedanken nicht an den jetzigen Glanz und Einfluß seines Hauses, sondern an seinen inneren Zusammenhang mit jener geistigen und sittlichen Kraft, welche in dem verfolgten jüdischen Stamme Jahrhunderte hindurch dem Hasse einer Welt getrotzt, bis sie endlich in dem stillen Dunkel eines armen Dessauischen Judenhauses zu einem hell und warm in die Geister und Herzen leuchtenden Strahl sich angesammelt hatte. Wer ermißt das geheimnißvolle Walten des Volks- und Familiengeistes, die innere Erbschaft der Geschlechter? wer konnte ihm, dem christlich erzogenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_628.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)