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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

sich heute wenig um den Theaterzettel und hatten die Anzeige der Novität schon längst wieder vergessen, als der Abend die Pforten Polyhymnia’s öffnete.

Die arme, unglückliche Oper! Das k. k. Theater an der Wien, in welchem dieselbe zum ersten Male gegeben werden sollte, lag in der Vorstadt Wieden und existirt daselbst jetzt noch, wenn auch unter andern Verhältnissen. Dorthin zu gelangen war für die guten Stadt-Wiener heute geradezu eine Unmöglichkeit; wenigstens glaubte man dies Unternehmen mit der Gefahr verbunden, daheim inzwischen ausgeplündert zu werden, und nur wenige der intimsten und zugleich verwegensten Freunde des Componisten wagten sich aus dem städtischen Dachsbau, während die guten Vorstädtler und zumal die „an der Wieden“ dergestalt mit Einquartierung überschwemmt waren, daß sie in ihren Häusern genug mit der Verpflegung der fremden Truppen zu thun hatten. Kein Wunder, daß das ganze Parterre des Theaters ebenso wie die Sperrsitze und die obersten Logenreihen französische Soldaten „occupirt“ hatten, die – lange genug von Paris abwesend – die Gelegenheit ergriffen, um endlich einmal wieder einer „kaiserlichen“ Opernvorstellung beizuwohnen – wenn auch gerade keiner französischen. Nur wenige Logen des ersten Ranges waren mit Wiener Notabilitäten besetzt – darunter die fürstlich von Lichnowsky’sche, die Lichtenstein’sche und die gräflich Browne’sche Familie, die Grafen Brunswick, Thun, Erdödy und Beethoven’s intimste Freunde; auch sein Bruder, der Apotheker, der ihn immer durch die Unterschrift „Gutsbesitzer“ ärgerte und dem er regelmäßig mit dem Briefschluß „Gehirnbesitzer“ diente, saß in einer halbdunkeln Loge, als der damals fünfunddreißig Jahre alte Componist an das Pult trat und das Zeichen zum Stimmen der Instrumente gab. Alle Augen richteten sich jetzt auf ihn allein, den starken breitschulterigen Mann, mit dem bedeutenden von wild durcheinanderfallenden Locken umwallten Haupte, das sich bald nach dieser, bald nach jener Seite wandte, während er einzelnen Musikern noch besondere Sorgfalt für gewisse Stellen einschärfte. Da tönte die Glocke zum ersten Male seinem einzigen, seinem unerreichten Bühnenwerke – es war dieselbe, deren Geläut er noch sterbend in seinen letzten Fieberträumen zu vernehmen glaubte. Die Ouverture begann, die wir noch heute mit dem Namen „die große“ bezeichnen, um sie dadurch von den drei andern zu unterscheiden, welche Beethoven früher und später zu seinem Riesenwerke geschaffen – das große Publicum aber und zumal die Soldaten der Occupation, diese Crême aller nichtmusikalischen Europäer, welche damals über dem größten Componisten der Welt zu Gericht saßen, ließ sie kalt; keine Hand rührte sich – der arme Beethoven mit seinem Meisterwerke war gerichtet – und halb wehmüthig, halb das Urtheil seines gletscherhaft kalt hinter ihm ansteigenden Publicums verachtend, klopfte er mit dem Stabe auf den blechernen Souffleurkasten. Wieder tönte die Glocke und – der Vorhang hob sich.

Die Bühne stellte die Häuslichkeit des Kerkermeisters Rocco dar, ganz dieselbe Scenerie und darin entwickelte sich ganz dieselbe Handlung, jene Gefängnißgeschichte mit Rettung durch Frauentreue, wie in der damals allgemein bekannten und beliebten Paer’schen Oper; nur an Stelle der von allen Stammgästen des Theaters adoptirten und sanctionirten Musik war eine durchaus unbekannte und für die Meisten sogar unverständliche getreten. Das war gefährlich – wenn sich auch in den ersten Scenen der Componist alle Mühe gegeben hatte, dem durch Mozart einmal gang und gebe gewordenen Zeitgeschmacke der gemüthreichen, anmuthig-heitern Opernmusik zu huldigen. Aber der Stammgast des Theaters, der gute Bürger und Hausvater, auf dessen Stimmung Beethoven durch die in den Eingangsnummern verhandelten Heirathsangelegenheiten wirken wollte, war heute nicht vorhanden, und die Soldaten des Kaiserreichs, die obendrein den Text nicht einmal verstanden, fanden an der hausbackenen Liebesgeschichte keinen Geschmack. Die ganze fünf Nummern umfassende Exposition war vollständig in’s Wasser gefallen und der Componist der Verzweiflung nahe, – da endlich hob der Rettungsengel die tönenden Schwingen seines Genius und versöhnte den Meister wieder mit seiner Muse.

Fidelio war es, in dem die jugendliche Milder (die später weltberühmte Hauptmann-Milder) die höchste, ja die deutsche Gattenliebe auf dem Hintergründe eines spanischen Sujets verherrlichte, und diese Liebe, die Spitze der ganzen Oper, welche die bisher noch unerreichte Sängerin zum vollendeten Ausdruck brachte, drang versöhnend, beseligend und beglückend in das Herz des Meisters. Bei der wunderbaren Steigerung des Allegro „Ich folg’ dem innern Triebe“ riß er endlich das kalte Publicum zur ersten Beifallsspende hin – aber was konnte ihm diese jetzt noch gelten? Ein dankbarer Blick, den er der jugendlichen Sängerin zuwarf, sagte Alles was seine Seele bewegte – und der Chor der Gefangenen, der halblaut und dumpfig wie Kerkerluft aus den Verließen heraufstieg, setzte ein, mit seinem schwermüthigen Hymnus an die Freiheit, jenem Act-Finale, das sich mit den Schauern der Bässe in stufenartigen, ungleichen Intervallen aus dem Grunde des Orchesters losrang.

Der Vorhang war gefallen, und ein Zwischenact ging vorüber, kalt und ohne freundliche Glückwünsche für den Componisten, der in sich gekehrt in der Nähe seines Pultes auf einer Bank im Orchester saß und dem Publicum den Rücken zuwandte. Welche Gefühle der Verachtung mochten gegen dasselbe in seinem Herzen wach geworden sein! – Da – horch! die Glocke; – die Gardine geht wieder in die Höhe – die Decoration hat gewechselt. Ah! – hörte man bewundernd und zufriedengestellt im Hause flüstern, als alle Augen auf Florestan, dem Manne im Kerker, ruhen, „der kaum mehr lebt und wie ein Schatten schwebt“. Die Gesängnißdecoration mit Ketten an den Strebepfeilern – der Haupttheaterapparat des Schauerschauspiels, wo man in der verfallenen Cisterne ein Grab schaufelt – das war etwas für das zartfühlende Parterre; solche Äußerlichkeiten waren im Stande ein Interesse zu erregen, das sich dem edleren Theile eines Kunstwerkes verschloß, welches einer der größten Meister der Welt unter Thränen des Leides und Entzückens geschrieben hatte.

Florestan begann seine große Arie: „In des Lebens Frühlingstagen ist das Glück von mir entfloh’n,“ – dieses unerreichte Kunstwerk, das eine Oper für sich ist und das der Meister mit seinem Herzbluts geschrieben, weil er im Florestan sich selbst componirt hatte. – Aber weh! der karge Beifall, den er bei den Freunden Beethoven’s fand, fiel auf unfruchtbaren Boden. Der Meister schüttete seinen ganzen Unmuth über den armen Tenoristen aus, dessen Vortrag ihm nicht innig und seelenvoll genug für diese schmerzensreiche Musik erschien; – besonders in der Höhe gefiel er ihm nicht – da kam er dem verstimmten Genius heute mit verstimmt und viel matter als in den Proben vor. Von diesem Augenblicke an war keine Rettung mehr für Beethoven – er gab den Erfolg seines Werkes verloren und brummte Verwünschungen, bald gegen das Publicum, bald gegen den Tenoristen.

Beethoven schien außer sich und gewann kaum noch so viel Fassung, das Finale, diese Hymne an die Freude, unter den Qualen ganz entgegengesetzter Gefühle zu leiten; – dann stürzte er hinaus – hinaus in die Nacht und seufzte tief und rannte nach seiner Gewohnheit noch stundenlang durch die finsteren Straßen, bis er sein stilles Asyl aufsuchte. Seine Oper war durchgefallen – und warum? – weil sie nicht verstanden wurde. Er war in Wien gerichtet, und die öffentliche Kritik – wenn wir gehässige Anfeindungen, Unwissenheit und Mangel an Verständniß so nennen dürfen – hörte nicht eher auf, die Pfeile des Spottes und des Undankes auf den unglücklichen Componisten zu richten, als bis dieser, auf’s Höchste gereizt, sich entschloß, sein Werk schon nach der dritten, fast ebenso erfolglosen Aufführung zurückzuziehen. Wie beispiellos absprechend und gehässig aber sich damals die gesammte Wiener Kritik über das neue Werk äußerte, zeige hier eine Probe aus dem sogenannten „Freimüthigen“ vom Jahre 1806, dem weitverbreitetsten belletristischen Blatte, welches als Zeichen seines ehrenfesten Charakters das Brustbild Ulrich’s von Hutten vorn auf jeder Nummer trug. Man berichtet darin aus Wien wörtlich: „Vor Kurzem wurde die Ouverture zu ,Fidelio’ im Augarten gegeben, und alle parteilosen Musikkenner waren einig, daß so etwas Unzusammenhängendes, Grelles, Verworrenes, das Ohr Empörendes schlechterdings noch nie geschrieben worden. Die schneidendsten Modulationen folgen auf einander in wirklich gräßlicher Harmonie, und einige kleinliche Ideen, welche auch jeden Schein von Erhabenheit entfernen, z. B. ein Posthornsolo, das vermuthlich die Ankunft des Gouverneurs ankündigen soll, vollendet den unangenehmen, betäubenden Eindruck.“ – Das war also die Abfertigung einer der größten Schöpfungen des menschlichen Geistes, mit des Höchsten, was je im Reiche der Töne das Ohr entzückte!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_602.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)