Seite:Die Gartenlaube (1868) 562.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

glaubte er Schritte herankommen zu hören, er winkte Annetten, deren Züge noch ihr ganzes Schicksal verriethen, und um sich selber zu fassen, trat er an’s Fenster und sah in die inzwischen dunkel gewordene Nacht hinaus.

Wilhelm öffnete die innere Thür; hinten ihm, im großen Saal, war es hell, die Kerzen brannten auf den Spiegeltischen, und rückwärts sah man noch in andere erleuchtete Räume hinein.

Er selber hielt in jeder Hand ein paar Flaschen zwischen den Fingern. Sein überaus blasses Gesicht flackerte von unruhiger Heiterkeit, und er blickte die Beiden an, wie wenn er sie eben über dem Gähnen ertappt hatte. „Es scheint, Ihr unterhaltet Euch schlecht,“ sagte er mit lauter, gesteigerter Stimme, „wahrscheinlich“ - indem er die Flasche hob – „weil es am Besten gefehlt hat? Aber jetzt zum Abendessen, zum Wein; ich habe im Clavierzimmer decken lassen, vielleicht läßt Karl nachher unser altes Spinett noch einmal arbeiten, ehe es abgedankt wird, und spielt uns ein paar von meinen alten Leibstücken. Kommt!“ sagte er, ohne sie weiter anzusehen, und ging voran, durch den hellen Saal auf das Clavierzimmer zu. Annette, in unbeschreiblicher Erregung, folgte ihm langsam, Karl schritt stumm hinterdrein. Drinnen war auf der kleinen Tafel Alles aufgetragen, was die ländliche Speisekammer nur irgend enthielt; die alte Wirthschafterin, die Mägde liefen ab und zu, es sah aus, als sollte ein großes Fest gefeiert werden. Nun stellte Wilhelm auch die Flaschen auf den Tisch, und in dem Augenblick rannen ein paar rothe Tropfen unter seinem Haar hervor und fielen auf die weiße Decke. „Was ist das?“ fragte Karl, indem er erschrocken näher trat, „Wein oder Blut?“

„Blut, Blut!“ erwiderte Wilhelm mit wilder Laune, indem er sein Taschentuch an die rechte Schläfe hielt; „Bruderblut, Karl! Ich habe einen kleinen Fall gethan – drunten im Keller. Ich wollte selber hinunter, weil ich die besten Sorten unter besonderem Verschluß habe, und auf den feuchten, schlüpferigen Stufen glitt ich aus –“

„So solltest Du Dich waschen,“ unterbrach ihn Karl, „und jedenfalls solltest Du mich nach der Wunde sehen lassen –“

„Nichts da! Nichts da!“ riefs Wilhelm mit gewaltsamem Lachen aus und trat einen Schritt zurück. „Eine ganz kindliche Schramme, weiter nichts. Das Beste ist, die paar rothen Tropfen sogleich wieder zu ersetzen.“ Und damit öffnete er eine der Flaschen, füllte die Gläser hastig mit dunklem Wein und goß das seine auf der Stelle hinunter. „Auf recht – glückliche Tage!“ setzte er hinzu und füllte sein Glas von Neuem, um mit Annetten und dem Bruder anzustoßen. „Auf fröhliche Nachbarschaft, Karl!“ Er trank aus, schenkte wieder ein, stürzte es hinunter und stellte dann das Glas mit einer so hastigen Bewegung auf den Tisch, daß es zerbrach. „Wer ist abergläubisch?“ sagte er und lachte und rief der eben hinausgehenden Dienerin nach, ihm ein anderes Glas zu bringen. „Iß und trink, Karl! Stärke Dich, Du siehst nicht gut aus, – die lange Reise steckt Dir in den Gliedern. Wir wollen Dich heute nicht lange festhalten; Ausschlafen thut Dir noth, aber auch Essen und Trinken!“ Er fuhr mit den Händen auf dem Tisch herum, um ihm Alles zu reichen, nöthigte ihm jede Speise auf, pries sie ihm an und stürzte unterdessen Glas aus Glas hinunter. Annette sah ihm in heimlichem Bangen zu.

Endlich, als die unerträgliche Tafelstunde vorüber war und die Mägde den Tisch wieder abgeräumt hatten, ging Wilhelm mit großen Schritten im Zimmer umher, versuchte zu singen, lachte selber laut darüber auf, ergriff dann auf einmal Karl, der bei der Berührung zusammenfuhr, am Arm, um ihn ohne Worte an das Spinett zu ziehen. Er schlug die großväterisch alten, vergilbten Noten auf, die Karl in ihrer Knabenzeit ihm so oft zu seiner Erbauung vorgespielt hatte, und drückte ihn auf den Sessel nieder. Es waren feierliche Kirchenmelodien, im alten Stil, auf das Spinett übertragen. Karl setzte sich hin, im Innersten aufgelöst, und mit unsicheren Händen fing er an zu spielen. Sowie er begonnen hatte, wandte Wilhelm sich ab und ging in den Saal hinaus. Annette hörte seine leisen, langsamen Schritte auf und nieder. Sie hatte sich an das Fenster gesetzt, wo üppig niederhängender Epheu sich mit ihren Locken mischte; sie sah in die Nacht hinaus und lauschte, sie blickte zu Karl hinüber, der ihre Augen vermied, ein unendliches Wehgefühl hob ihre Brust, und die bittersten Thränen flossen ihr über die Wangen.

So hatten sie sich eine Weile gegenüber gesessen, als Karl plötzlich mitten in einer Melodie, wie von einem Geist ergriffen, abbrach und in die Höhe fuhr. Er warf sich das verwilderte Haar aus der Stirn, legte sich die rechte Hand über die feuchten Augen, die andere auf’s Herz, er schien in fürchterlicher Bewegung zu sein. „Annette!“ sagte er mit halblauter Stimme, „leben Sie wohl!“ Ein letzter Blick begleitete diese Worte, der ihr durch die Seele ging; dann kehrte er sich ab und trat in den Saal hinaus. „Wilhelm!“ sagte er laut. Die Lichter waren ausgelöscht, aber in dem Halbdunkel erkannte er, daß der Raum leer war, daß sich der Bruder entfernt hatte. Er durchschritt den Saal, trat auf den Flur, rief seinen Namen, und da er nichts von ihm sah noch hörte, auch kein Anderer statt seiner kam, so stieg er die Treppe hinan, um, einer Ahnung folgend, ihn in seinem eigenen Zimmer aufzusuchen. Er kam an die Thür und glaubte drinnen Geräusch, glaubte halblaut gesprochene Worte zu hören. Mit zitternden Fingern klopfte er; Niemand rief „Herein!“ Nun versuchte er zu öffnen, aber die Thür war verschlossen. „Wilhelm!“ rief er; „Wilhelm!“ es kam keine Antwort. „Wilhelm!“ wiederholte er mit lauter, ängstlicher Stimme.

Nun endlich antwortete es von drinnen: „Was willst Du?“

„Ich bitte Dich, öffne mir!“ erwiderte Karl und pochte von Neuem. „Oeffne mir, Wilhelm, in des Himmels Namen!“ Auf diese Worte rührte es sich drinnen, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und indem Karl sogleich die Thür mit den Händen aufstieß, trat er hastig hinein.

Es war dasselbe Zimmer, in dem sie Beide als Knaben miteinander gehaust hatten; noch hing das Bild ihrer Mutter an derselben Stelle, an der es damals gehangen, noch standen dieselben alten, verschossenen Polsterstühle in den Winkeln umher. Auf einem von ihnen, neben der Thür, saß Wilhelm regungslos und sah den Bruder wie ein Abwesender an. Eine Pistole lag neben ihm auf dem Tisch in der Ecke. Er hatte ein Blatt Papier im Schooß, einen Stift in der Hand, als hätte er eben schreiben wollen. Diese Anstalten, dieser Anblick des Bruders und die Erinnerungen, die der Raum im ihm wachrief, erschütterten Karl vollends bis in’s Mark. Es flirrte ihm vor den Augen. Er lehnte sich gegen die Thür. „Was wolltest Du, Wilhelm?“ brachte er mit Mühe über die Lippen. „Was wolltest Du mit der Pistole dort? Treibt es Dich, auch zu sündigen, so wie ich an Dir gesündigt habe?“

„Was hättest Du an mir gesündigt?“ fragte Wilhelm, indem er des Bruders Augen vermied, und suchte ungläubig zu lächeln.

„Was ich an Dir gesündigt habe?“ erwiderte Karl und lehnte seinen Kopf gegen die Wand. „Ich liebe Deine Frau wie ein Wahnsinniger; ich hab’ es ihr gesagt, ich habe sie geküßt; – das ist es, Wilhelm, was ich Dir gethan habe. Um Dir das zu sagen, kam ich her; mit einer Lüge wollt’ ich nicht von Dir scheiden. Aber ich sehe nun, Du hast Alles gewußt. Du bist nicht auf den Kellerstufen gefallen, Wilhelm, sondern auf dem Flur an der Thür. Du bist dann heraufgegangen, um Dir das Leben zu nehmen. Auf diesem Blatt da hast Du uns sagen wollen, sinnloser Mensch, daß Du um unserer Schuld willen Dich in den Tod gestürzt hättest.“

Wilhelm erwiderte nichts und stierte mit ödem, verschlossenem Gesicht vor sich hin. Seine weiße Stirn röthete sich heftig, die Wunde unter seinem Haar fing wieder an zu fließen, und wie blutige Thränen rannen ihm die Tropfen langsam an der Wange herab. Karl, sowie er das sah, von einem Schauder geschüttelt, griff nach einem Schwamm, der nicht weit von ihm auf Wilhelm’s Waschtisch lag, tauchte ihn in Wasser und eilte auf den Bruder zu, um das Blut zu stillen. Er hob das Haar hinweg, eine kurze, schmale Wunde erschien, nur das wilde Pochen des Herzschlags schien die quellenden Tropfen hervorzutreiben. Er drückte das kühlende Wasser auf die heiße Stelle, wusch ihm das Blut von der Schläfe, von der Wange und füllte den Schwamm von Neuem, um den tröpfelnden Purpur aufzufangen. Wilhelm ließ Alles mit sich geschehen, ohne sich zu rühren.

„Warum hast Du Dich so gar nicht drum gekümmert?“ sagte Karl mit sanftem Vorwurf.

„Wozu auch!“ erwiderte Wilhelm und starrte noch immer in die leere Luft.

„Setze Dich!“ fing Karl nach einer Weile wieder an, „ich

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_562.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)