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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

welche später das eigenartige Gepräge der Sinnes- und Denkungsart des Mannes begründete. Er war eben „Heinrich Wunderlich“ und blieb es all’ seine Lebtage.

Wie er in der Fülle seines liebeathmenden Herzens den Seinigen daheim mit rückhaltloser Offenheit, ohne Arg und Hehl, zutraulich sein Inneres preisgab, so lernte er die vorsichtige Zurückhaltung und bedächtige Ueberlegung niemals kennen und üben, die zu einem weltklugen Handeln im späteren Leben so nothwendig erscheint, soll der Mann nicht Zeitlebens Kind bleiben. Er blieb stets schüchtern, linkisch, verlegen und unbeholfen. Konnte man ihn auch nicht gerade unreinlich und schmutzig nennen, so lag ihm doch wenig daran, ob er ungewaschen und ungekämmt, etwas schnudelig und unordentlich, mit Tintenflecken an den Fingern, schiefem Hemdkragen, herabhängenden Strümpfen und beschmutzten Schuhen auf der Straße oder in der Schule erschien.

In dem eine Stunde von Zürich, auf der rechten Seite der Limmat zwischen freundlichen Rebenhügeln gelegenen Dorfe Höngg, wo Pestalozzi’s mütterlicher Großvater Hozze Pfarrer war, verbrachte der Knabe und Jüngling häufig seine Schulferien. Wie hier zuerst der Gedanke in ihm rege wurde, sich selbst dem Prediger- und Seelsorgerberufe zu widmen, den sein Großvater in einfach altväterlicher Weise so gewissenhaft erfüllte, so wurde daselbst durch das Elend einer an Leib und Seele verkümmerten Fabrikbevölkerung zugleich noch ein anderer Keim in seine Seele gepflanzt, der in seinen späteren Jahren unter Dornen und Noth zu reifen und edle Früchte zu bringen bestimmt war: die Liebe nämlich zum niedern Volk, der Sinn für die wahren Bedürfnisse desselben und der Trieb für die Verbesserung der Volksbildung.

In jener Zeit, wo er, achtzehn Jahre alt, in das Collegium humanitas in Zürich eingetreten war, schloß er sich mit aller Gluth seines für Wahrheit und Recht begeisterten Gemüthes jenem von Lavater, Füßli und Fischer gestifteten Freundesbunde an, zu dessen wesentlichem Zwecke es gehörte, alle Ungerechtigkeit, welche diese Jünglinge vornehmlich im Verhältniß der Patricier zum unterdrückten Landvolke begehen sahen, gleich einer heiligen Schaar von Rächern furchtlos zur öffentlichen Kunde zu bringen. So verklagten sie den ungerechten Landvogt Grebel[WS 1], zogen die willkürlichen Bedrückungen des Zunftmeisters Brunner an das Licht der Oeffentlichkeit, befehdeten schlechte Pfarrer, nahmen sich überall Solcher an, die zu arm und niedrig waren, ihre Forderungen geltend zu machen, strebten die gedankenlosen Volkswahlen zu verbessern und suchten aller Orten einzugreifen, wo Ungerechtigkeit geübt wurde. Freilich mußte solches in seiner Quelle edle und hochherzige, aber immerhin unberufene, nicht selten eigenmächtige Treiben bald der Regierung, bald den Vätern, bald den Jünglingen selbst vielfachen Verdruß zuziehen.

Schon früher war Pestalozzi in seinem Schulleben durch Verletzung seines Rechtsgefühls zu thätlichem Einschreiten bewogen worden. Er hatte einst mit einem ungerechten, unwürdigen Unterlehrer einen Auftritt, wobei der kühne Vertheidiger seines schwerverletzten Rechtes zum Erstaunen seiner ganzen Classe siegte. Im Gefühle seiner Kraft und seines Sieges, suchte er nun jedem Unrecht zu wehren. Einst zeigte er heimliche Gräuel einer öffentlichen Erziehungsanstalt den Vorstehern in einem anonymen Briefe an. Er war aber nicht schlau genug, wurde verrathen und zog sich Haß zu. Die Untersuchung bestätigte Alles, was er gesagt hatte. Man verlangte, daß er den Knaben nennen solle, der ihm die Nachricht mitgetheilt. Das wollte er nicht, und als man ihm mit exemplarischer Strafe drohte, entfloh er zu seinen Großeltern über Land. Dort war er Zeuge einer neuen Ungerechtigkeit und Willkür. Die Stadt Zürich hatte eben angefangen, den Handel der Landleute auf alle Weise zu beschränken. Da entstand in ihm der feste Entschluß: „Einst will ich euch, ihr armen Unterdrückten, zu eurem Rechte verhelfen!“ Dieser Gedanke wuchs mit ihm fort und befestigte sich immer mehr in ihm. Volksrecht, Volkskraft, Volkstugend – das ward der Mittelpunkt seiner Gefühle und seiner Thätigkeit.

Mit den edelsten Vorsätzen, für das Volk zu wirken, wie sie durch die gerade damals auftauchenden Rousseauschen Schriften und Freiheitslehren noch mehr angefeuert und gekräftigt wurden, widmete er sich zuerst dem Studium der Theologie. Aber bei seinen Predigtversuchen auf der Kanzel, die er mehrmals auf dem Lande betrat, erging es ihm wunderlich genug. In seiner ersten Predigt blieb er einige Male stecken und verirrte sich im Vaterunser, ein ander Mal brach er wunderlicher Weise mitten in der Predigt in unwillkürliches Lachen aus, und das dritte Mal, so wird wenigstens erzählt, mußte es der auf der Dorfkanzel durch drei volle Stunden in seine Gedanken und Gefühle vertiefte jugendliche Redner erleben, daß ihn die Zuhörerschaft sich selber und dem Küster überlassen hatte, ehe er zum Schluß gekommen war.

Diese Mißerfolge bestimmten ihn, der Theologie zu entsagen und sich der Rechtswissenschaft zu widmen. Doch auch sie sollte ihn nicht festhalten; während eines Sommeraufenthaltes in einem der lieblichen Orte am linken Ufer des Zürichsees lernte er seine künftige Gattin, die Tochter des Züricher Kaufmanns Schultheß, kennen und faßte in der Lebhaftigkeit seiner Statur zugleich eine solche Liebe zur Landwirthschaft, daß er beschloß, sich ihr ganz hinzugeben und auf dem Boden eines ruhigen, glückverheißenden, häuslichen Lebens die Träume seines Herzens für das Wohl des Volkes zu verwirklichen. Bei einem Gutsbesitzer im Emmenthal versuchte er sich zum Landwirth auszubilden, allein bei seinem unpraktischen Wesen kehrte er nur als ein großer landwirtschaftlicher Träumer in seine Vaterstadt heim, um sich, einundzwanzig Jahre alt, seinen häuslichen Heerd zu gründen.

Höchst charakteristisch für seine Art und Weise ist die Schilderung, welche er in einem seiner ersten Briefe an „die theure, einzige Freundin seines Herzens“ von sich selbst entwirft, „Von meiner großen, in der That sehr fehlerhaften Nachlässigkeit[WS 2] in allen Etiketten und überhaupt in allen Sachen, die an sich keinen Werth haben,“ so schreibt er, „bedarf ich nicht zu sprechen, man sieht sie in meinem ersten Anblick. Auch bin ich Ihnen noch das offene Geständniß schuldig, daß ich die Pflicht gegen meine geliebte Gattin der Pflicht gegen mein Vaterland stets untergeordnet halten werde, und daß ich, ungeachtet ich der zärtlichste Ehemann sein werde, es dennoch für meine Pflicht halte, unerbittlich gegen die Thränen meines Weibes zu sein, wenn sie jemals mich mit denselben von der geraden Erfüllung meiner Bürgerpflicht, was auch immer daraus entstehen möchte, abhalten wollte.“ – – „Ohne wichtige, sehr bedenkliche Unternehmungen wird mein Leben nicht vorbeigehen. Ich werde meine ernsten Entschlüsse, mich ganz dem Vaterlande zu widmen, nicht vergessen; ich werde nie aus Menschenfurcht nicht reden, wenn ich sehe, daß der Vortheil meines Vaterlandes mich reden heißt. Mein ganzes Herz gehört meinem Vaterlande. Ich werde Alles wagen, die Noth und das Elend meines Volkes zu mildern. Welche Folgen können die Unternehmungen, die mich drängen, nach sich ziehen, wie wenig bin ich ihnen gewachsen, und wie groß ist meine Pflicht, Ihnen die Möglichkeit der großen Gefahren, die hieraus für mich entstehen können, zu zeigen!“

Dieser Brief scheint indeß die Erwählte seinen Herzens nicht abgeschreckt zu haben, denn am 24. Januar 1769 vermählte sich Pestalozzi, nach endlich erlangter Einwilligung der Eltern, mit seiner geliebten Anna, die sich ihm und seinen Lebensbestrebungen mit aufopfernder Liebe anschloß und diese bis zu ihrem am 12. December 1815 erfolgten Tode unter den schmerzlichsten Wechselfällen des Schicksals treu bewährt hat. Pestalozzi hatte sich im Birsfelde achtzig Morgen Land als Grund zu einem Gute gekauft, das er Neuenhof nannte und wo er, gegen den Rath aller seiner Freunde, ein kostspieliges Wohnhaus im italienischen Kunstgeschmack baute. Ein angesehenes Handelshaus in Zürich verband sich mit ihm zum gemeinschaftlichen Unternehmen einer großartigen Anlage von Krapppflanzungen, zog sich jedoch nach einiger Zeit, auf mehrfach erhaltene Warnungen und ungünstige Gerüchte, davon zurück.

Pestalozzi gerieth dadurch in eine üble Lage. Dennoch verzagte er nicht. Er nahm vielmehr den Kampf gegen das Schicksal auf und beschloß, trotz der Noth, in die er durch diesen Rücktritt des Züricher Hauses versetzt wurde, das Begonnene nicht nur fortzuführen, sondern sein Landgut zum festen Mittelpunkt seiner landwirthschaftlichen und – pädagogischen Bestrebungen zu machen.

Denn er wollte noch Höheres. Im Kreise von Bettelkindern wollte er fortan leben und mit ihnen in Armuth sein Brod theilen, um Bettler wie Menschen leben zu machen. Er fand begüterte, opferwillige Freunde, die ihm behülflich waren, seinen edeln, hohen Zweck, der ihn nicht ruhen und rasten ließ, thatkräftig in’s Werk zu setzen. Im Jahre 1775 ward die Armenschule auf dem Neuenhof eröffnet. Von allen Seiten strömten ihm arme

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Felix Grebel (1714–1787), Vorlage: Gorbel
  2. Vorlage: Nachlässigkeiten
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_550.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)