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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

die kühlen, weichen Finger zwischen den seinen, aber er dachte an Karl und wagte nicht, sie zu drücken. So fuhren sie in ihr neues Leben hinein, dem Abend entgegen.




6.

Der Sommer war mit Sonnenschein und Regen über das Land gegangen, das Laub fing an sich zu röthen, die letzten Fruchtgelände und Kornbreiten hatten sich in Stoppelfelder verwandelt. Ein herbstlicher Wind schüttelte die verstummten Wälder, und der warme Glanz der Wolken, der an Sommerabenden so beseligend herunterleuchtet, kühlte sich schon. Aber ein anderer Glanz hatte sich über das Land gebreitet: die weite, sanft gehügelte Fläche zwischen den Herrenhöfen und Dörfern der Brüder war, mit den silbernen Fäden des „Mariengarns“ übersponnen und schimmerte im schrägen Sonnenlicht, wie wenn ein ungeheurer Schleier sie durchsichtig bedeckte. In der Ferne blitzte hier und da der Fluß in seinen Windungen auf, ein feiner Nebeldunst schien über seinem Lauf zu schweben, bis er sich hinter den fernsten Wäldern verlor. Die reine Luft zitterte nicht mehr, wie in den heißen Sommertagen, wenn sie schwer über dem Kornmeer lagert; wie aus dem dünneren Aether herabgeweht, durchgeistigte sie die warmen Dünste, die dem Boden entstiegen, und trug wie im Spiel den leichten Rauch hinweg, der, im Abendschein sich golden bräunend, von den Strohdächern aufstieg.

Um diese Zeit der sinkenden Sonne saß Frau Annette auf der grünen Bank vor ihrem Hause, unter dem Kastanienbaume, der sie ganz mit seinem Schatten bedeckte, und träumte vor sich hin. Sie hatte den Kopf auf die Hand, den Arm auf die Lehne gestützt, ein Häubchen im Haar, eine blaßrothe Schleife auf der Brust; die etwas matten Augen ruhten in ihrem Schooß, glitten zuweilen über den abendstillen, sonnigen Hof hinweg und kehrten dann, bald gesenkt, zu ihrem hellen Kleide, zu ihrem Busen zurück. In Gedanken verloren, von denen sie selber nichts wußte, hörte sie nichts um sich her, vernahm auch nicht, wie Wilhelm vom Hausflur auf die Thürschwelle trat, und sah nicht, wie seine Blicke über sie hinfuhren. Alle ihre Sinne schienen sacht zu schlafen; sie saß so unbeweglich da, wie die Bank, an die sie sich lehnte, und als wäre sie auf der Welt mit sich allein.

Wilhelm stand in einem wamsähnlichen dunklen Hausrock, in hohen Stiefeln, eine Reitpeitsche in der Hand, an der Thür und betrachtete Annette eine Weile, ohne sich zu rühren. Endlich trat er auf sie zu, und der Klang seiner Stiefeln auf den Steinen schreckte sie aus ihren Gedanken.

„Annette,“ sagte er sanft, „es wird kühl, und Du bist so leicht gekleidet; wirst Du Dich nicht erkälten?“

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf.

„Das Clavier,“ fing er nach einer Weile wieder an, „das Clavier ist auch angekommen. Nun kann das alte Spinett endlich in die Rumpelkammer gesteckt werden, und Du kannst recht nach Herzenslust spielen, liebe Annette.“

„Ich danke Dir,“ sagte sie mit einem freundlichen Blick.

„Ich muß Dich auch noch um Verzeihung bitten, Annette,“ setzte er nach einer neuen Pause mit schmerzhaftem Lächeln hinzu. „Du willst zwar nicht, daß ich Dir noch mit neuen Geschenken kommen soll, aber diesmal konnt’ ich nicht bis Weihnachten warten! Die große silberne Stutzuhr, die ich Dir zum Geburtstag mitbrachte, hat Dir so gar nicht gefallen. Nein, nein – streite nicht. Ich hab’ es wohl gemerkt. Du ziehst sie nicht einmal auf. Ich habe Dir eine andere kommen lassen, Annette, die nicht von so plumpem Geschmack ist.“

Annette richtete sich auf. „Lieber Wilhelm –!“ sagte sie im Ton eines sanften Vorwurfs und sah dann gequält vor sich hin.

„Ich bin ein Verschwender, ich weiß es,“ sagte er und suchte wieder zu lächeln. „Schilt, so viel Du willst. Wenn ich nur – Wenn ich Dir nur einmal eine wahre, herzliche Freude machen könnte,“ fuhr er mit zitternder Stimme fort, „was läge am Gelde?“ – Er starrte in das dichte Kastanienlaub, das bis zu seiner Brust herunterhing und sich ein wenig bewegte; dann wandte er sich wieder zu ihr: „Ich soll Dir noch sagen, Annette, daß der Doctor – ich bin ihm vorhin zu Pferde begegnet – daß er Dich für gesünder hält, als Du selber glaubst. Er meint, es fehle Dir eigentlich nichts. Du werdest uns noch Alle überleben, sagte er. Er hat alle Schuld auf Deine Nerven geschoben – und auf ein wenig Hypochondrie, liebe Annette; Du weißt, wie die Aerzte sind! – Es hat mich recht sehr gefreut,“ setzte er in gepreßtem Ton hinzu, „daß er Dich von allen körperlichen Leiden freispricht.“

Annette blickte zu ihm hinauf und nickte mit aller Heiterkeit, die sich ihren müden Zügen auszwingen ließ; dann starrte sie wieder auf den Boden und schwieg.

„Es ist auch ein Brief von Demoiselle Merling gekommen,“ fing er nach längerem Verstummen wieder an. „Sie stellt uns für den nächsten Monat ihren Besuch in Aussicht. Ich habe ihr geantwortet, sie wäre uns schon in diesem Monat willkommen, und wir würden sie von nun an täglich erwarten.“

Annette starrte ihn befremdet und beunruhigt an. „Warum hast Du ihr das so eilig geschrieben?“ fragte sie mit einem leisen Vorwurf im Ton. „Wenn Du mich erst gefragt hättest!“ wollte sie hinzusetzen, aber sie brach ab und fiel wieder in ihr entschlossenes Schweigen.

„Hätte ich es etwa nicht thun sollen?“ erwiderte er hastig. „Dir wird’s ja doch recht sein, Annette! Ich habe mir’s nicht anders gedacht, als daß es Dir recht wäre. Uebrigens – übrigens kommt sie nicht allein,“ setzte er plötzlich hinzu und begann mit großen Schritten auf und ab zu gehen.

„Sie kommt nicht allein? Wer noch sonst?“ – Annette stand unruhig auf.

„Wir leben hier zu einförmig, liebe Annette,“ sagte er, indem er stehen blieb, doch ohne sie anzusehen. „Das thut Dir – das thut uns Beiden nicht gut. Weißt Du noch, wie wir es uns eigentlich vor der Hochzeit gedacht hatten? Ich hatte im Sinn, wir wollten so recht – zu Dreien leben, Annette. Das ging ja im Anfang nicht. Karl hatte ja in Frankreich zu thun; es ließ sich nicht ändern. Es war auch wohl gut so; wir haben nun wenigstens –“ setzte er mit stockender Zunge hinzu, „unsere Flittermonate für uns allein gehabt. Aber ist es Dir recht, Annette, wenn wir dieser Flitterzeit ein Ende machen? Einmal muß es ja sein. Und es wird auch Dir ein Vergnügen sein, mit Karl zu leben. Es lebt sich so gut mit ihm. Er hat Sinn für Alles, er weiß Alles, – und was wird er nun erst zu erzählen haben, Annette, wenn er aus Frankreich zurückkommt!“

Annette blickte ihn in verstohlener Bangigkeit an, aber erwiderte nichts. Er hatte sich gegen den Baum gelehnt und starrte eine Weile in die Ferne hinaus; endlich kehrte er sich wieder zu ihr und fragte: „Ist es Dir recht, daß ich ihn gebeten habe, wieder nach Hause zu kommen? und daß ich Dich damit überrasche? Er hat mir geantwortet, Annette, er kann heute schon da sein. Ja, er kann in dieser Stunde kommen – und ich sterbe schon vor Erwartung.“

Indem er das sagte, hatte er Annetten im Auge, aber ihr blasses Gesicht, nur von einer schwebenden Röthe überflogen, zeigte nicht, was sie dabei empfand. „Ich dachte mir’s wohl, daß Du ihn erwartetest,“ sagte sie ruhig lächelnd. „Meinst Du, ich hätte nichts davon gemerkt, diese Wochen her? Hast Du nicht sogar im Traum davon gesprochen? Und Deine Unruhe bei Tage – Deine andeutenden Fragen – denkst Du, ich kennte Dich nicht?“

Sie sagte das mit ihrer sanften, fast elegischen Stimme, und Wilhelm starrte ihr überrascht in’s Gesicht. „Du wußtest –“ sagte er. Zu diesem Augenblick klang ein lautes Bellen vom Hofthor herüber, und er brach ab. Er drehte sich dorthin, ohne weiter auf Annette zu achten, und sah und horchte hinaus. Das fröhliche Bellen wiederholte sich. „Caro! Caro!“ rief er und trat ein paar Schritte vor. Karl’s silbergraues Windspiel sprang in leichten Sätzen über den Hof heran, schmiegte und wand sich in den leidenschaftlichsten Bewegungen zu Wilhelm’s Füßen, kroch an ihm hinauf, legte sich wieder hin und schüttelte die Blechkapsel an seinem Halse.

„Ein Brief, ohne Zweifel!“ rief Wilhelm und beugte sich nieder, um die Kapsel zu öffnen. Der Hund lag ganz still. Aber sowie er den Brief in Wilhelm’s Händen sah, schnellte er wie eine Feder in die Höhe und sprang auf Annette zu, um sie liebkosend zu umwedeln. Die junge Frau, während sie mit verhaltener Unruhe auf ihren Gatten blickte, was der Brief ihm wohl sage, streichelte den Boten mit Zärtlichkeit, und Karl’s Bild stand ihr lebhaft vor Augen. Aber auf einmal hielt sie inne, und wie wenn sie sich über einer Schuld ertappt hätte, erröthete sie und zog ihre Hand von Caro’s Nacken zurück. „Was verdrießt

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