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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

wilden Lächeln nach der Laube zurück. Er riß die Gartenthür auf und schwankte hinweg. Die unseligste Ahnung schien ihn zu durchfahren. Mit einem Gesicht, in dem auf einmal alle Lebensfarbe ausgelöscht war, taumelte er hastig über den Hof und trat in das Haus, ohne den Bruder zu erwarten, der fassungslos hinter ihm herlief.

Auf dem Flur hatte sich schon ein Theil der Gäste aufgestellt, die lebhaftesten Wohlgerüche schwammen ihm entgegen. Annette trat eben mit der Demoiselle Merling aus dem Zimmer hervor.

Ihr weißes Atlaskleid, der Kranz mit den weißen Blüthen in ihrem Haar hob noch ihre Blässe. Sie schien viel geweint zu haben, aber die matten Augen gaben sich nun alle Mühe, zu lächeln. Mit aufgeregter Freudigkeit kam sie auf ihn zu, indem sie die Alte stehen ließ. Jetzt bemerkte sie seine Verstörtheit und fragte: „Was fehlt Ihnen, Wilhelm?“

„Annette,“ sagte er außer sich, „wissen Sie schon, daß Karl uns verlassen will? daß er morgen davongeht?“

„Will er das?“ antwortete sie und suchte nach dem Ton, in dem sie diese Mittheilung bedauern müßte. „Das ist traurig!“ setzte sie nach einigem Stocken hinzu und wandte sich hastig ab. Der plötzliche Schreck drohte ihr in die Kniee zu fahren, ihr Blick sie zu verrathen. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, und als hätte sie sich nur nach ihrer Mutter umgewandt, die eben den Flur heraufkam, eilte sie auf sie zu und legte ihre beiden Arme um deren Nacken. „Karl will uns verlassen!“ stieß sie hervor, mit einem Ausdruck der Ueberraschung, der ihr Gefühl verbarg.

Die gute Mutter wiegte bedauernd den Kopf. „Was bedeutet das?“ fragte sie arglos. Der verstörte Wilhelm starrte vor sich hin.

In diesem Augenblick erschien der Vater, mit ungeduldiger Miene und Geberde, um daran zu erinnern, daß Alles bereit sei, daß der Geistliche warte. Und damit nahm er den Arm seiner Tochter und ging mit ihr voran, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Wilhelm blickte nach dem Hof zurück; er sah seinen Bruder oben auf der Schwelle erscheinen. Unfähig wie er war, ihn anzusehen, wandte er sich wieder um und schritt langsam hinter Annette her, unter den Blumengewinden der Hausthür hindurch, in die Sonne hinaus, dem hohen Portal der Marienkirche entgegen. Er fühlte, wie die Blicke der Menschenmenge, Kopf an Köpf, auf ihm ruhten; ihm war, als ginge er auf dem letzten Gange und als sähe sie es ihm an. Nur an dem Schatten, der an seiner Seite erschien und sich langsam bewegte, erkannte er, daß sein Bruder neben ihm ging; er blickte auf diesen Schatten und hob die Augen nicht auf. Auf einmal stand er vor dem Altar, Annette in ihrem weißen Kleide neben ihm, das große, röthliche Gesicht des Pfarrers ihm gegenüber, dahinter die Kerzen auf den Silberleuchtern, das hohe Bild mit der Kreuztragung; in seinem Rücken hörte er die Zuschauer hüsteln, die Kleider rauschen, und wie wenn er sich aus einem Traum erwecken müßte, sagte er sich: Das Alles gilt dir! Das da ist deine Braut! In einer Viertelstunde wird dieser Mensch euch vermählen! Und hinter dir steht dein Bruder, den du unglücklich gemacht hast, und läßt sich das Herz zerreißen und sehnt sich hinweg – um dich nicht wiederzusehen! Ein grausamer Schmerz, ein unbestimmtes Bangen feuchtete ihm die Stirn; die feierliche Rede des Geistlichen begann, er verstand kein Wort, er suchte nur in athemloser Hast sich das ganze Unglück, das über sie Beide hereinbrach, auszudenken. Du hast sie ihm weggenommen, dachte er, und da steht er nun hinter dir! Hast du dein Gelübde gehalten, keinen Herzensbund ohne sein Ja und Amen zu schließen? Bist du nicht an Allem schuld, – du, du allein? – Eine plötzliche Angst überfiel ihn, er sah mit einem halben Blick zur Seite nach Annetten, die lautlos wie eine Bildsäule dastand, und fragte sich ganz verwirrt: Und bist du so gewiß, daß sie dich liebt? Ist sie dir freiwillig um den Hals gefallen, um dir zu sagen, daß sie ohne dich nicht leben kann? Hat sie ihr ganzes Herz vor dir ausgeschüttet? Mein Gott – woher weißt du, daß ihr euch heirathen müßt – daß sie – daß Karl – Die Angst schlug ihm plötzlich über dem Kopfe zusammen; ihm war einen Augenblick, als müßte er, da nun der Pfarrer seine Stimme hob und den Blick auf ihn richtete, ausrufen: Halt ein, halt ein! Die Frage kommt noch zu früh – hier stehen drei Menschen, die sich erst vor Gottes Angesicht entschließen müssen! Aber jetzt hörte er seinen Namen, und die Frage: willst du diese Jungfrau zum Weibe nehmen? – und mit einem Schmerz, in den kein Jubel sich mischen wollte, sagte er sich, daß Alles entschieden sei, und hörte ein deutliches, tönendes Ja seinen Lippen entquellen. Er hörte Annetten das gleiche Wort fast unvernehmlich hervorhauchen; er sah sie an, als er den Ring mit ihr wechselte, er kniete neben ihr nieder, um den priesterlichen Segen zu empfangen, – eine feierliche Bewußtlosigkeit senkte sich über ihn, er nahm es hin, als müßt’ es eben so sein. Die Füße trugen ihn endlich mechanisch wieder hinaus, er trat in die Sonne. Er kam in Annettens Haus zurück, legte seinen Mund auf ihre Lippen, umarmte ihre Eltern, nahm die Glückwünsche und Umarmungen der Anverwandten hin, ließ Alles mit sich geschehen. Er suchte endlich mit den Augen seinen Bruder, um auch ihn zu umfassen. Aber Karl war verschwunden. Bei dieser Entdeckung erst wachte der ganze Jammer in seiner Brust wieder auf; der Schmerz, den er dem Bruder angethan, trat ihm in voller Größe vor die Seele, und mit schwerster Anstrengung ging er auf die Hochzeitstafel zu, um hier, in den verworrensten Gefühlen, obenan neben seiner Neuvermählten zu sitzen.

(Fortsetzung folgt.)




Deutschlands Herrlichkeit in seinen Baudenkmälern.

Nr. 3. Das Münster zu Ulm.

Es war im wunderschönen Monat Mai, als mich der Schnellzug von Stuttgart nach Ulm trug. Nach dreistündiger Fahrt brauste die Wagenreihe unter den riesigen Schutzherren des letzteren, den Bastionen, hindurch, dann ein freier Blick: im Vordergründe eine freundlich gelegene Caserne, aus rothen Backsteinen ausgeführt, darüber hinweg Dächer, Thürme und Thürmchen, Alles aber hoch überragend, wie eine kolossale Steinblume – das Münster. Welch ein Bau! Aus der imposanten, gedrungenen Steinmasse glänzt hie und da ein schmales Luftlicht, welches sich durch die schlanken Schallfenster des Glockenhauses stiehlt und die imposante Silhouette unterbricht. Gleich einem Riesentorso steigt dieses unvollendete Prachtwerk mittelalterlicher Baukunst zum Himmel empor. Die Ausdehnung dieses größten Domes der protestantischen Christenheit wetteifert mit den kolossalen Dimensionen des Kölner Münsters, und bis zum völligen Ausbau dieser Kirche war das Münster in Ulm thatsächlich die größte Deutschlands.

Die Ulmer scheuten sich nicht vor dem kühnen Unternehmen, mit ihrem Münster ein „Futteral für den Straßburger Dom“ zu bauen, und ließen es an Beiträgen dazu nicht fehlen. Rührend ist die Opferfreudigkeit, mit der Hoch und Niedrig die Gaben zum Bau des Münsters herbeibrachten. Der ansehnliche Theil der aus jener Zeit noch heute erhaltenen Münsterrechnungen belehrt uns über die verschiedenen Arten der Beiträge. Beim Acte der Grundsteinlegung ging der Bürgermeister Kraft mit einhundert Goldgulden, die er auf den Stein legte, voran, Andere folgten ihm mit Geldbeiträgen, dann kamen Schenkungen an Kleidungsstücken,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_532.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)