Seite:Die Gartenlaube (1868) 527.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

antwortete mir nicht, sie mußte nur heftiger weinen, und ich weinte mit ihr. Ich sah ihr an, daß sie so recht unglücklich war. Ich sagte ihr, auch der Vater sei so zurückgekommen. Es fiel ihr auf, und ich mußte ihr erzählen. Sie saß dann eine Zeit lang sinnend; aus einmal stand sie rasch auf und ging zu der Stube des Vaters. Wir Kinder sahen sie Beide den Abend nicht mehr. So mußten wir zu Bett gehen. Aber ich konnte nicht schlafen, und ich mußte immer nach dem Schlafgemache der Eltern hinhorchen, welches durch ein Zimmer von Fanny’s und meinem Schlafzimmer getrennt ist. Die Thüren waren verschlossen. Ich konnte dennoch hören, wie die Mutter weinte und der Vater mit ihr sprach. Erst lange nach Mitternacht hörte ich nichts mehr.“

Der kleine Fritz war während der Erzählung der Schwester aufgestanden und nahte sich geheimnißvoll dem Großvater.

„Großvater, ich kann Dir sagen, was der Vater und die Mutter sprachen; ich schlief bei ihnen in der Stube und war in der Nacht aufgewacht.“

Die beiden Schwestern sahen den Knaben verwundert an.

„Was wolltest Du gehört haben? Du hast ja kein Wort davon gesprochen“

„Ich sage es nur dem Großvater,“ erwiderte der Kleine.

„So sage es ihm.“

„Nachher, wenn ich allein mit ihm bin. Erzähle Du ihm jetzt weiter.“

Mathilde erzählte weiter:

„Am anderen Morgen mußten wir Kinder den Kaffee allein mit der Gouvernante trinken; der Vater frühstückte, wie immer, in seinem Arbeitszimmer, die Mutter aber, sagte das Fräulein, könne nicht aufstehen, sie habe Kopfschmerzen. Der Vater war dann in die Sitzung gegangen, aus der er vor Mittag nicht zurückkommen konnte, zu der Mutter mußte ich mich nachher hinschleichen; sie saß auf ihrem Bett und weinte. Sie mußte die ganze Nacht geweint haben, und ich fragte sie nochmals, was ihr fehle.

‚Ich bin unglücklich, tief unglücklich,‘ war ihre Antwort.

Ich fragte sie, was sie so unglücklich mache? Sie antwortete mir nur, sie könne es mir nicht sagen, ich verstehe das nicht.

‚Mögest Du es nie erfahren!‘ setzte sie hinzu.

Bei Tische erschien sie nicht; auch der Vater nicht, er ließ sagen, die Sitzung daure heute länger. Als er später kam, aß er allein auf seinem Zimmer. Unsere arme Mutter sahen wir gar nicht wieder, den Vater erst spät am Abend, als das Unglück geschehen war.“

Die Erzählerin wurde von der jüngeren Schwester unterbrochen.

„Aber ich hatte sie noch miteinander sprechen gehört,“ sagte die Kleine, „und ich muß es Dir sagen, Großvater.“

„Fanny!“ rief Mathilde, um sie zurückzuhalten.

Das Kind ließ sich nicht irre machen.

„Ich muß es dem Großvater erzählen; er muß Alles erfahren, und er soll es. Höre mir zu, Großvater. Der Vater und die Mutter hatten etwas miteinander gehabt; der Vater sah so schrecklich aus, wie schon Mathilde sagte, die Mutter weinte nur. Ich mußte wissen, was es war, ich paßte ihnen auf. Am Nachmittage hörte ich, wie der Vater zu der Mutter ging; er verschloß die Thür hinter sich, ich schlich ihm nach, stellte mich an die Thür und hörte den Vater sprechen, aber leise, daß ich kein Wort verstehen konnte; er redete lange und rasch, die Mutter erwiderte ihm nichts oder nur einzelne Worte, sie redete langsam und noch leiser, als er. Plötzlich sprach der Vater mit lauter Stimme, er mußte auf einmal böse geworden sein.

,Du wirst mit mir gehen!’ rief er.

Er sprach es so zornig, daß es mir durch das Herz fuhr, ich fühlte, wie mir das Herz klopfte. Ich war neugierig, was die Mutter antworten werde, ich konnte ihre Antwort verstehen, denn sie sprach auch lauter, die Worte des Vaters hatten sie wohl verdrossen.

,Ich werde nicht mit Dir gehen!’ sagte sie, und ich hörte ihr an, daß das ihr fester Wille war.

Ich hätte es auch so gesagt. Der Vater rief:

,Ich werde Dich zwingen!’

Die Mutter antwortete ruhig: ,Ich werde es erwarten.‘

Dann redeten sie wieder leise, und ich verstand kein Wort weiter. Eine Viertelstunde nachher ging die Mutter doch aus, aber allein, zehn Minuten später jedoch folgte ihr der Vater. Was ich Dir erzählt habe, Großvater, ist die volle Wahrheit.“

Der kleine Fritz war während der Mittheilung der jüngeren Schwester unruhig geworden; Niemand hatte auf ihn geachtet, desto aufmerksamer war er jedem Worte gefolgt.

„Großvater,“ hob er auf einmal an, „nun ich das von der Schwester Fanny gehört habe, können diese auch hören, was ich weiß.“

Den alten Geheimerath schien es bei diesen Worten des Kindes heiß und kalt zu überlaufen. Schon das, was er bis jetzt vernommen, hatte unzweifelhaft wenigstens Keime eines schweren Verdachts in seine Brust senken müssen, und jedes fernere Wort des Kindes mußte dem Verdachte neue Nahrung geben. Sollte er die eigenen Kinder zu Anklägern gegen ihren Vater machen? Sollte er sich selbst jener entsetzlichen, barbarischen Gewissenlosigkeit schuldig machen, als deren Träger bis zu jener Zeit nur die französischen Staatsanwälte sich gezeigt hatten? Seit neuerer Zeit, seitdem alles Schlechte, was die französische Strafrechtspflege aufzuweisen hat, auch in deutschen Gesetzen und Gerichtshöfen Boden gefunden hat, wird auch das Rechtsgefühl des deutschen Volkes oft genug verletzt und empört durch jene selbst von den rohesten Zeiten des heimlichen Inquisitionsprocesses verschmähte Verfolgungssucht, welche Kinder, selbst im Alter von sieben Jahren, zwingt, Ankläger gegen ihre Eltern zu werden.

„Du sollst es mir nachher erzählen, mein Knabe,“ sagte der Geheimerath zu dem Kinde.

„Nein, nein, jetzt!“ rief das Kind.

Und Fanny trat ihm in ihrer Heftigkeit bei: „Laß ihn! Du mußt Alles wissen, Großvater. Erzähle, Fritz, was Du gehört hast.“

Dem Knaben war nicht zu wehren.

„Ich wurde wach,“ erzählte er, „und da hörte ich den Vater zu der Mutter sagen: ,Du bist ein ehrvergessenes, ein ehrloses Weib!’ Und das ist, das war die Mutter nicht!“ setzte das Kind zornig hinzu. „Meine todte Mutter war brav; sie hat jeden Abend mit mir zu Gott gebetet, auch für den Vater –“

Der Knabe mußte laut weinen und schluchzen. Seine Schwestern weinten mit ihm.

Der Geheimerath aber sagte zu den Kindern: „Sprecht nie wieder über diese Geschichte; nie, nie wiederholt Euch die Worte, die Ihr von Euren Eltern gehört habt. Lasset die Ruhe Eurem Vater auf Erden und Eurer Mutter im Grabe. Gebt mir die Hand darauf.“

Sie gaben ihm weinend die Hände; auch der Knabe.

„Ich kann schweigen, Großvater,“ sagte er entschlossen.

Der Geheimerath entließ die Kinder; er mußte allein sein.

„Selbstmord?“ fragte er sich und grübelte lange über dem Gedanken.

„Ein ehrvergessenes, ein ehrloses Weib hat er sie genannt. Und sie hatte diese stolze Ehre! Und diesen rasch entschlossenen, leidenschaftlichen Charakter! Konnte sie den Vorwurf ertragen? Aber war sie nicht eine Schuldige, wenn sie ihn nicht ertragen konnte? Wenn sie sich unschuldig fühlte, war dann nicht eben ihre Unschuld, ihre Ehre, war ich nicht da? Und doch, sie war keine Schuldige. Was hätte sie je verbrechen können? – Und – und – er leugnete ab, mit ihr Streit gehabt zu haben. Er wollte sie nicht anklagen, wenn sie schuldig war, und wenn sie unschuldig war, nicht sich und seine ungerechten Vorwürfe gegen sie, als Veranlassung ihres Selbstmordes. Aber behauptete er nicht auch, sie habe ausgehen wollen, allein, ohne, gegen seinen Willen, sie sei aller seiner Bitten ungeachtet gegangen? Und das Kind hat gehört, deutlich vernommen, wie er von ihr verlangte, sie solle gehen, mit ihm gehen. ,Du wirst mit mir gehen!’ hat er ihr zugeherrscht. ,Ich werde dich zwingen!’ Und dann ist sie allein gegangen, und er ist ihr wenige Minuten nachher gefolgt.“

„Ein Verbrechen?“ sprach der grübelnde Vater. „Ein Mord? Ein Gattenmord?“

„Und die Kinder!“ rief er dann entsetzter. „Die drei armen, ahnungslosen Kinder! Er war immer der liebevoll zärtliche Vater gegen sie. Wenn sie auch heute ihm zureden, in dem ersten Schmerze über die todte Mutter, die er in ihren letzten Stunden ungerecht, hart behandelt, angefahren habe – der Schmerz macht ungerecht, Kinder nehmen immer Partei für die weinende, für die schwächere Mutter; sie werden vergessen, der rasch von dem Schmerze aufgeregte Zorn wird eben so rasch verschwinden;

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_527.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)