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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

„Oder, unglückliches Kind, glauben Sie ein Gefühl, eine Neigung für – den Andern zu haben?“

Das Mädchen schwieg und blickte, ohne sich zu rühren, auf die Erde. Die Alte fuhr wieder auf. „Mon dieu, es ist richtig! Dieser tolle, emancipirte Mensch hat ihr den Kopf verdreht! Mit seinem souverainen Wesen, mit seinen Mailiedern, mit seiner Freigeisterei hat er’s ihr beigebracht! Und da sitzt sie und will den Menschen nicht nehmen, um dessen Liebe hundert junge Mädchen sie gerne vergiften würden!“

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich, Mademoiselle Merling!“ rief Annette plötzlich in ihrer Bangigkeit aus, indem sie aufsprang und unwillkürlich ihre Hände erhob. „Lassen Sie mich gehen!“

„Nein, nein, ich lasse Sie nicht,“ erwiderte die alte Dame mit feierlichem Nachdruck und faßte Annettens Aermel, wie um sie festzuhalten. „Ich bin da, um Ihnen Vernunft beizubringen, liebes Kind. Sie wollen ja mit offenen Augen in Ihr Verderben rennen, wie die Fliege in’s Licht! Setzen Sie sich, Annette, und hören Sie, was ich sage.“

„Was wollen Sie noch sagen?“ fragte das Mädchen und blieb in hülfloser Unruhe stehen.

„Setzen, setzen Sie sich! Was ich noch sagen will? Daß Sie ein rechtes Kind sind, liebe Annette! Seit wann kennen Sie Charles?“

Annette schwieg.

„Seit vorgestern Abend, wenn ich’s Ihnen sagen muß! Und heute bilden Sie sich ein, ihn schon zu lieben! Mon enfant, mon enfant! Sind das die Empfindungen eines wohlerzogenen, gesitteten Mädchens?“

Annette warf ihr einen hastigen Blick zu und preßte die Lippen zusammen.

„Was würden Ihre vortrefflichen Eltern sagen, Annette, wenn ich ihnen von diesem unglaublichen Zustand Ihres Gemüths erzählen würde? wenn ich ihnen sagte, daß ihre Tochter das größte Glück, das ihr auf Erden begegnen kann, ablehnt, daß sie es verschmäht, sich und ihre ganze Familie – und ihre ganze Familie, mein Kind! – glücklich zu machen, weil sie einen andern jungen Menschen seit gestern angenehm findet?“

Annette schwieg beharrlich, aber ihre Augen füllten sich mit Thränen.

„Was würden Ihre armen Eltern sagen,“ fuhr Demoiselle Merling immer eifriger fort, „wenn sie je erführen, daß ihrer Tochter so etwas begegnen konnte? und daß dieses Kind, das sie mit so viel Schmerzen und Sorgen und Liebe aufgezogen haben, sie jetzt lieber in Noth und Elend läßt – in Noth und Elend! – als daß es dem romantischen Vergnügen entsagt, vierzehn Tage für einen Freigeist zu schwärmen?“

„Lassen Sie mir Bedenkzeit, Mademoiselle Merling!“ sagte das Mädchen mit der flehendsten Stimme, und die ersten Thränen liefen ihm die Wangen hinunter.

„Das werde ich nicht thun, mon enfant, das werde ich nicht thun. Etwa so lange, bis Sie ausgeschwärmt haben? Und so lange soll mein armer Wilhelm sich krümmen wie ein Wurm und sich den Verstand aus dem Kopfe denken? Als wenn er dazu auf der Welt wäre, nach so einem kleinen eigensinnigen Mädchen in aller Demuth zu schmachten –“

„Mademoiselle Merling, haben Sie Mitleid mit mir,“ sagte Annette unter tiefem Erröthen und faßte ihre Hand. „Wollen Sie mich unglücklich machen? Wenn nun der Andere – wenn Monsieur Karl mich lieb hätte – –“ Sie schlug die Augen in der rührendsten Verwirrung nieder und schloß wieder die Lippen.

„Ah, ich verstehe,“ sagte die Alte mit einem bösen Lächeln, „und wenn dann Monsieur Charles käme und uns heirathen wollte, so hätten wir ja nicht umsonst gewartet! Schlagen Sie sich diesen Gedanken aus dem Kopf, Annette. Charles wird Sie niemals heirathen, niemals. Er denkt nicht daran. Er hat noch nie daran gedacht. Er läßt Sie seinem älteren Bruder. Er wird eine Andere nehmen.“

Das Mädchen starrte sie an. „Woher wissen Sie das?“ stammelte sie nach einer Weile, blaß wie ihr weißes Tuch.

„Woher ich das weiß?“ erwiderte die Alte und suchte ihre plötzliche Verlegenheit hinter einem harten Ton zu verbergen. „Glauben Sie etwa, daß ich Ihnen Unwahrheiten berichte? Er denkt nicht daran: Er ist ein wenig passionirt für Sie, wie er es schon für hundert Andere gewesen ist. Er hat – er hat Sie lieb wie eine zukünftige Schwester; verstehen Sie mich jetzt?“

Annette zuckte kläglich zusammen. Die Arme sanken ihr an den Seiten nieder und ihre ganze zarte Gestalt schien das Leben zu verlieren. „Weiß er davon?“ hauchte sie mit vieler Mühe hervor. „Weiß er, daß sein Bruder – ?“

Sie konnte nicht weiter sprechen. Demoiselle Merling stand einen Augenblick in Verwirrung da, sie hatte nicht den Muth es zu bejahen. „Warum soll er es schon wissen, liebes Kind?“ sagte sie endlich mit einer gewissen Rührung; „das glaube ich nicht. Das weiß ich nicht zu sagen. Fassen Sie sich. Vielleicht, ja, vielleicht, daß der gute Wilhelm es ihm schon gesagt hatte, – daß Charles eben darum so galant, so herzlich gegen Sie war. Wie konnten Sie das nur so mißverstehen, ma pauvre Annette! Er dachte an weiter nichts. Nie wird er das Mädchen heirathen wollen, das sein älterer Bruder liebt. So schlimm ist er nicht! Er wird sich recht herzlich freuen, wenn Sie seinem theuren Wilhelm Ihre Hand geben; er wird Sie lieb haben wie eine Schwester, und Sie ihn wie einen Bruder; enfin. eines Tages werden Sie darüber lachen, daß Sie einmal die kleine Närrin waren, Ihre und seine Gefühle so romantisch zu verwechseln.“

„Nun, liebes Kind, was sagen Sie?“ fuhr die Alte nach einer Weile fort, da das Mädchen noch immer wie betäubt in der Laube stand und seine Thränen eine der anderen nachflossen. „Was soll ich Ihren Eltern sagen, wenn ich jetzt zu ihnen hineingehe?“

„O Mademoiselle Merling!“ sagte Annette mit Thränen in der Stimme und suchte sie mit ihren ausgestreckten Armen aufzuhalten.

„Ich gehe nicht zu Ihrem armen Vater, Annette; was soll ich ihm sagen? Soll ich ihm mittheilen, daß man keine Lust hat, ihm aus seinem Bankerott endlich herauszuhelfen? daß sich zwar ein unbedeutender junger Mensch gefunden hat, der dazu bereit wäre –“

„Wie können Sie so unbarmherzig sein, Mademoiselle Merling!“ rief das Mädchen ans, das vor Thränen ganz zerfließen zu wollen schien, „wie können Sie mich so martern!“

„Die Vernunft ist oft eine Marter, liebes Kind,“ sagte die Alte mit etwas strengem Gesicht, „wenn man sie nicht annehmen will. Sie werden die Alte eines Tages segnen, heute finden Sie sie natürlich unbarmherzig. Ich gehe jetzt zu Ihrem armen Vater hinein, und wenn er sich zufälliger Weise über diesen unbedeutenden Schwiegersohn freuen sollte –und wenn Ihre gute Mutter, die so viel um Sie gelitten hat, ebenso denken sollte – dann werde ich sie Beide herausschicken, Annette, damit sie von ihrer eigenen Tochter hören, weshalb es ihr unmöglich ist, ihre Eltern glücklich zu machen.“

„Bleiben Sie, bleiben Sie!“ rief Annette außer sich ihr nach. „Sie wollen mich tödten!“

„Ich will Sie tödten, allerdings,“ erwiderte die Alle und blieb stehen, „ich will Ihnen einen armen, häßlichen, alten, abscheulichen Menschen aufdrängen! Quelle horreur! – Soll ich jetzt gehen oder nicht? Haben Sie sich gefaßt, Annette?“

Das Mädchen antwortete nicht mehr; es war auf die Bank gesunken, hatte die Arme auf den Tisch gelegt und sein Gesicht drüber hin. Ein fast unhörbares Schluchzen war das einzige Zeichen des Lebens in der hülflosen Gestalt. Die alte Dame blieb noch einige Augenblicke, mit einer Regung des Mitleids kämpfend, stehen, dann ermannte sie sich, zog ihren letzten Blick von dem verstockten Kinde ab und wandte sich zur Thür. „Sie können sich noch nicht besinnen, Annette,“ sagte sie streng. „Ich sehe, es ist hohe Zeit, Sie zu retten. Ich werde thun, was ich Ihnen und meinem Liebling schuldig bin, und es wird dann die Sache Ihrer armen Eltern sein, Ihre Vernunft zu erwecken.“

Damit rauschte sie über den Kiesweg zwischen den Beeten davon, dem Hause zu und ließ Annette mit ihren Thränen allein.




4.

Am Abend des nächsten Tages ritt Karl, seinen Bedienten hinter sich, Caro zur Seite, dem Sonnenschein entgegen, der von Thurm und Dach der Marienkirche auf’s Feld hinaus strahlte, und dachte an den weiten Weg, den er so hastig zurückgelegt, an die endlosen Tage, die nun überstanden waren, und an das kleine Haus neben jener Kirche, dem er zusteuerte. Er hatte seine Geschäfte und Obliegenheiten als Gutsherr so viel wie möglich gekürzt,

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