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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 33.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


„Meine theure Annette!“ sagte Demoiselle Merling, als sie die jasminduftende, schattig versteckte Laube in der Ecke des kleinen Gärtchens erreicht hatten, faßte Annettens beide Hände, sah ihr mit pathetischer Rührung in die Augen und schloß sie dann, ohne ein Wort hinzuzusetzen, in ihre Arme. Sie küßte sie auf die Stirn, auf die Wangen und auf den Mund.

Das Mädchen ließ Alles in wachsender Verwirrung über sich ergehen, endlich aber löste es sich sanft aus den Armen, die es so feierlich umschlungen hielten, und suchte auf dem Gesicht der alten Dame die Erklärung zu lesen. „Um Gotteswillen, Mademoiselle Merling!“ sagte es ängstlich, „was haben Sie? Was soll dies Alles bedeuten?“

„Ihr Glück, meine Liebe, Ihr Glück!“ erwiderte die Alte und ließ von Neuem ihre angefeuchteten Augen auf dem Mädchen ruhen. „Der Himmel meint es gut mit Ihnen, Annette. Er traut Ihnen wohl zu, ma chère enfant, daß Sie sich nicht überheben werden! – Lieber Gott, Sie sind sechszehn Jahre. Sie sollen recht früh verwöhnt werden; bleiben Sie demüthig, Annette!“

„Aber so sagen Sie mir, um des Himmels willen –“

„Der liebenswürdigste, schönste, beste, blauäugigste Jüngling in der ganzen Stadt will Sie heirathen, Annette! – – Ich hätte erst zu Ihren Eltern gehen sollen, ich komme zu früh zu Ihnen, aber ich konnt’ es nicht lassen. Ich mußte sehen, wie meine kleine ahnungslose mignonne sich dabei ausnehmen würde! Mon Dieu, wie sie roth wird! Wie roth – und wie blaß! Oho, was ist Ihnen, ma chère? War die Ueberraschung gar zu groß? Sie werden ja schneeweiß vor Schrecken. Fassen Sie sich, Annettchen! Fassen Sie sich! Setzen Sie sich auf die Bank; lassen Sie Ihr blasses Köpfchen nur ein wenig sinken, - so! Ich bin zu plötzlich damit herausgekommen, n’est-ce pas, ma chère? Sie haben sich so ein Glück nicht denken können, nicht wahr, meine alte Annette? Gott, und die Hände so kalt, – kommen Sie zu sich, mein Kind! Wenn Wilhelm Sie so sähe – er würde ja ganz außer Fassung kommen! Er würde Wunder glauben, was ich Ihnen zu Leide gethan hätte! Und ich habe Ihnen doch weiter nichts gesagt, ma petite folle, als daß Sie das glücklichste Mädchen werden sollen und bald eine kleine Frau – und eine Frau, die tausend Andere beneiden!“

„Ich danke Ihnen,“ sagte Annette endlich mit schwacher Stimme, indem sie ihr immer noch entfärbtes Gesicht auszurichten versuchte. „Sie reden von Monsieur Wilhelm?“

„Von wem sonst, liebes Kind? – – Sie denken doch nicht etwa – –“ Der Mund blieb ihr plötzlich halb offen stehen, und sie starrte das blasse Mädchen ganz erschrocken an. Erst nach einer Pause fand sie wieder Worte und sagte mühsam: „Hatten Sie etwa einen andern Gedanken, Annette?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte das arme Geschöpf und suchte die Mundwinkel, in deren Zittern sich die Thränen ankündigten, stille zu halten. „Mademoiselle, – verzeihen Sie mir. Ich kann, ich kann Monsieur Wilhelm nicht heirathen.“

„Sie können nicht? Warum können Sie nicht, Annette?“ Die alte Dame stand auf und forschte in der größten Aufregung in Annettens Gesicht. „Wie kommen Sie dazu, mir zu sagen, mein Kind, daß Sie nicht können?“

Annette schwieg und sah in der tiefsten Beklemmung vor sich hin.

„Soll ich etwa glauben, mein Kind,“ fuhr Demoiselle Merling mit schärferer Stimme fort, „daß Sie sich Rechnung auf – auf Wilhelm’s Bruder gemacht haben? Warum schütteln Sie den Kopf? Warum belügen Sie mich? Was könnte es sonst sein, daß Sie die ausgezeichnetste Partie im ganzen Lande so sans façon ausschlagen?“

„O Mademoiselle,“ sagte das Mädchen und sah ihr mit einem Blick, der um Mitleid bat, in’s Gesicht, „ich kann nicht – ich weiß nicht – ich kann es Ihnen nicht sagen.“

Die Alte faßte Annette bei der Schulter, und es sah aus, wie wenn sie sie vor Aufregung schütteln wollte, aber sie besann sich, glättete ihr gerunzeltes Gesicht, zog ihr heftig vorgeschobenes Kinn wieder zurück und setzte sich, so sanft es ihr möglich war, neben dem Mädchen hin. Ma pauvre petite!“ sagte sie mit ihrer freundlichsten Stimme, indem sie ihren Arm um die zierliche Gestalt legte, die bei dieser Berührung leise zu zittern anfing. „Ich habe Sie sehr erschreckt, Sie sind so ein zartnerviges Kind. Sie wissen ja, die alte Merling hat Sie von Herzen lieb und will Ihnen nichts Böses. Contenance, meine alte Annette! Hat Ihnen unser Charles irgend ein leichtsinniges Wort von Liebe gesprochen?“

Annette schüttelte den Kopf und sah sie unruhig an.

„Nun, also Sie ihm auch nicht! Was ist Ihnen denn? Haben Sie etwas gegen meinen Wilhelm einzuwenden?“ Sie schüttelte wieder den Kopf.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_513.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)