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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Es war eine große, volle, schöne Gestalt, man unterschied frische, anmuthige Gesichtszüge. Sie trug ein Kind auf dem Arme und blieb wenige Schritte von der Laube stehen; dann schaute und horchte sie nach dem Pförtchen hin, durch welches die beiden Schwestern eingetreten waren. Als sie nichts wahrnahm, kehrte sie zurück, langsam, wie sie gekommen war; jenseits der Laube ging sie wieder auf und ab.

‚Gehen wir,‘ sagte Franziska zu der Schwester.

Sie sagte es mit der vollen Ruhe, die sie seit fünf Tagen hatte. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren, allein nur bis an das Pförtchen, denn nicht weit von diesem war ebenfalls eine Laube; in diese begaben sie sich, Franziska wollte darin die Ankunft des Lieutenants erwarten.

Emma sagte ängstlich: ,Wenn er zufällig hierher käme und uns fände!’

‚Und was sollte das?‘ erwiderte Franziska mit ihrer Ruhe.

‚Was würdest Du ihm sagen?‘

,Ueber meine Lippen würde kein Wort kommen, aber der Mond scheint hell, und er würde in meinen Augen lesen.’

Nach zehn Minuten öffnete sich leise das Pförtchen. Jemand trat rasch in den Garten. Franziska blickte nach ihm durch eine Oeffnung der Laubenwand.

,Er ist es!’ sagte sie.

Es war der Lieutenant Hille, der zu der Laube ging, an welcher die Frauensperson mit dem Kinde auf ihn wartete. Die beiden Schwestern glaubten bald dort leises Geflüster zu hören.

,Gehen wir,’ sagte Franziska wieder. Sie sagte es mit jener Ruhe, die jetzt eine unzerstörliche geworden war. Sie hatte ja jetzt Gewißheit, volle, zweifellose Gewißheit. Am andern Morgen -“ der Erzähler wurde unterbrochen.

„Wozu,“ fragte der Herr von Römer, „willst Du mir Dinge mittheilen, die ich kenne, vielleicht besser kenne, als Du?“

„Ah,“ sagte der Buckelige, „auch was ich bisher erzählte, war Dir schon bekannt.“

„Was Du vom Lieutenant Hille sprachst, war eben Stadtgespräch.“

„Und der anonyme Brief? Man sagte, er sei von Dir!“

„Es war erlogen.“

„Und was das Stadtgespräch betrifft, wer hatte es gemacht?“

„Weiß ich es?“

„Ich werde es Dir sagen –“

„Sage mir vorher, wie weit und wie lange Du mich in dieser finsteren Schlucht noch führen wirst?“

„Wir sind bald am Ziele.“

„Und wo ist dieses Ziel?“

„Bei einer Leiche.“

Es war eine Auskunft, die der Consistorialpräsident wohl nicht erwartet hatte. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Du fürchtest Dich?“ fragte Sebastian Brand.

„Nein,“ erwiderte der Präsident kurz.

Sie setzten ihren Weg fort und der Buckelige sprach weiter: „Ich bin auch bald mit meiner Erzählung zu Ende, doch ehe ich sie fortsetze, eine Frage. Wo war Deine Frau, als Du das Haus verließest?“

„Wozu die Frage?“ sagte der Herr von Römer.

„Sie könnte zur Sache gehören.“

„Zu welcher Sache?“

„Alle Wetter, Römer, zu Deiner. Antworte mir.“

„Meine Frau war vor mir ausgegangen.“

„Wohin?“

„Zu einer Freundin.“

„Hm. Und wie lange wollte sie ausbleiben?“

„Sie ließ zurück, der Bediente solle sie um neun Uhr mit der Laterne abholen.“

„Wir werden jetzt bald halb sieben haben. Aber kommen wir auf meine Erzählung zurück. Am anderen Morgen also schrieb sie drei Zeilen an Dich:

‚Mein Herr, ich ersuche Sie, mir heute um zwölf Uhr Ihren Besuch zu schenken.
     Franziska von Wangen.’

Du kamst. Flogst Du auf Flügeln der Liebe oder der Angst des Verbrechers hin? Merke wohl auf, ich spreche nicht von der Angst des Gewissens; Menschen, wie Du, kennen die nicht. Du kamst. Du fandest sie in Gesellschaft ihres Vaters. Sie hatte zu ihm gesagt: ,Vater, ich bitte Dich, Punkt zwölf in meinem Zimmer zu sein. Herr von Römer wird zu mir kommen.’

‚Was will er?’ hatte der Vater gefragt.

,Du wirst es erfahren.’

Mit dem Glockenschlag zwölf warst Du da. Das Herz bebte Dir doch; Du warst sogar sehr blaß. Sie empfing Dich mit den Worten:

,Herr von Römer, Sie baten mich mehrmals um meine Hand.’

‚Gnädiges Fräulein –’

‚Wünschen Sie meine Hand noch?’

Du machtest eine banale Phrase über höchstes Glück, Seligkeit des Himmels, über Deine Liebe bis zum Tode, und dergleichen Dinge. Sie reichte Dir ihre Hand hin, Du bedecktest sie mit Küssen; der Vater sprach gerührt seinen Segen, und Ihr wart Verlobte. Der Lieutenant Hille nahm vier Wochen später seinen Abschied und verließ die Stadt. Gensd’armerierittmeister hatte er auch jetzt nicht werden wollen. Vier Wochen nachher war Franziska von Wangen Frau von Römer.

Und jene Geliebte Hille’s mit ihrem Kinde? Sie war seine Schwester, eine ehrliche, verheirathete Bäuerin. Sie war mit ihrem Kinde hinten aus der Provinz Westphalen gekommen. Sie war gut situirt und hatte die Reisekosten daransetzen können, um einmal nach langen Jahren den Bruder wieder zu sehen. Sie hatte auch noch ein Anliegen, das sie ihm mündlich an’s Herz legen wollte. Der jüngste Bruder sollte Soldat werden; er war schwach und engbrüstig, da sollte der Bruder Premierlieutenant ihn frei machen. Die wohlhabende Bauernfrau hatte die Reise mit der Post gemacht, denn Eisenbahnen gab es damals noch nicht. Unterwegs war sie mit einem älteren Officier zusammengetroffen und eine Strecke zusammen mit ihm gereist. Dem hatte die hübsche, frische westphälische Bauernfrau mit dem offenen, natürlichen Wesen gefallen, und sie hatte ihm erzählen müssen, wohin sie wolle. Sie hatte ihm Alles mitgetheilt, auch ihre Freude, den Bruder wiederzusehen, der damals, als sie ihn zum letzten Male gesehen, Pferdejunge gewesen sei und nun bald Rittmeister werde und sich wundervoll ausnehmen müsse, wenn er in der braunen, silberbetreßten Uniform an der Spitze seiner Escadron reite. In Münster habe sie die grünen Husaren mit den goldenen Tressen gesehen, aber sie habe sich sagen lassen, daß die braunen noch besser aussähen. Wenn sie nun so an der Seite des vornehmen Officiers in der Stadt einhergehe, sie, die einfache Bauerfrau mit der altmodischen Bauerntracht, wie würden sich da die Leute verwundern, und auch die anderen Herren Officiere. Da hatte der alte Officier im Postwagen bedenklich den Kopf geschüttelt.

‚Meine liebe Frau, ich kenne Ihren Herrn Bruder nicht. Aber wenn Sie wissen, daß er Rittmeister werden soll, so sprechen Sie ihn doch zuerst ohne Zeugen, bevor Sie offen zu ihm oder gar mit ihm gehen.‘

Die Frau hatte gestutzt. ,Wie denn das sei?’

‚Wie das sei? Bürgerliche Officiere sehe man überhaupt ungern in der Armee, zumal in den höheren Chargen, und wenn ihr Bruder sich einmal öffentlich mit einer Bäuerin zeige und man höre, daß es seine Schwester sei, so würden seine Cameraden, die adeligen Herren Officiere, so viele Witze darüber machen, daß es mit seinem Avancement für immer vorbei sei.’

Die arme Frau weinte über diese Entdeckung ihre bitteren Thränen. Umkehren konnte sie nicht mehr; sie war nahe an dem Ziele ihrer Reise. Aber ihr Entschluß war gefaßt. Sie bat ihren Reisegefährten, Niemandem zu sagen, was sie ihm mitgetheilt hatte, und dieser versprach es ihr. Er fuhr weiter, sie stieg in dem Gasthof in der Vorstadt ab, entdeckte keinem Menschen, wer sie war, spähete die Wohnung ihres Bruders aus, schlich sich Abends im Dunkel zu ihm, weinte sich vor Freude aus, ihn wiederzusehen, und theilte ihm dann die Worte des alten Officiers und ihren felsenfesten Entschluß mit, nur unter der Bedingung zu bleiben, daß kein Mensch hier erfahre, daß sie seine Schwester sei. Er mußte einwilligen; er that es auch wohl im Hinblick auf das, was er seiner heimlichen Verlobten schuldig sei. Daß die Bosheit der Welt ihren Verkehr mit dem Bruder dennoch erfahren und ihm eine andere Bedeutung, die giftigste von der Welt, geben könne, daran hatten die beiden arglosen Menschen nicht gedacht. Ein Schurke gab sie ihm. Erst Frau von Römer erfuhr die Wahrheit. Sie war die Frau des raschen, aber auch des energischen, festen Entschlusses. Niemals hast Du auch nur eine Ahnung davon haben können, daß sie Deinen Schurkentrug kannte. In dieser Stunde hörst Du es zum ersten Male. Und ich bin nun

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_495.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)