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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

löste die finstere Falte zwischen seinen Brauen wieder auf, und ein sanftmüthiges Lächeln trat ihr auf die Lippen. Er blickte Annette herzlich an und ging auf die Alte zu.

„Sie müssen nicht böse sein, liebe Tante,“ sagte er leichthin. „Sie müssen mir verzeihen. Sie wissen, im Gespräch ereifere ich mich leicht. Geben Sie mir die Hand und sagen Sie mir freundlich Adieu! Ich muß fort, aber ich darf nicht eher gehen, als bis Sie sich in aller Großmuth mit mir ausgesöhnt haben.“

Demoiselle Merling stand auf und schlug ihn leicht auf die Hand. „Sie verdienen es gar nicht!“ sagte sie mit einem sauersüßen Lächeln und noch immer grollender Stimme. „Sie sind ein Mensch ohne Grundsätze, eine Mensch ohne Pietät – ja, ich muß es wiederholen, lieber Charles – ohne Pietät gegen mich! gegen mich, Ihre zweite Mutter! – Gehen Sie, reisen Sie und bessern Sie sich. Es ist nur gut, daß Sie mir wenigstens meinen alten Wilhelm zurücklassen.“

Karl gab dem Bruder die Hand, ohne etwas zu erwidern, und verneigte sich gegen das Fräulein, das sich zierlich, doch in einiger Bewegung erhob. Er fühlte sich verwirrt und eilte nach einigen hastigen, inhaltslosen Abschiedsworten hinaus. Die Luft in diesem Zimmer schien ihn zu bedrücken. Erst draußen kehrte seine Besinnung zurück; er mäßigte seinen Schritt, der sich anfangs überstürzt hatte, und blieb endlich mitten auf dem Marktplatze stehen, um. seinem ungestümen Blut ein wenig Ruhe zu gönnen.

„Ich hatte es schon fast aufgegeben, Dich einzuholen,“ sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm, und Wilhelm’s Arm legte sich in den seinen. „Warum liefst Du denn auf einmal so davon? Ich hatte Dir noch Allerlei zu sagen; warum stürmst Du so, Karl?“

„That ich das?“ erwiderte Karl mit erzwungenem Lächeln. „Ich mußte ja fort! – Was hast Du mir denn zu sagen?“

„Karl,“ fragte Wilhelm und suchte seine Augen, „hast Du Dich vorhin über mich geärgert? Ich habe Dir so dumm widersprochen; hat Dich das gekränkt?“

„Du bist ein Narr!“ sagte Karl und lachte ihm in’s Gesicht.

„Wie soll mich das kränken?“

„Ich meinte nur, weil Du heut’ so eigenthümlich erregt bist! Uebrigens mit den unglücklichen Ehen, Karl, da hatte Demoiselle Annette Recht, da hatte sie Recht! Ich hab’s wohl auch bemerkt, wie sie Dich wieder sanft gemacht hat ohne ein Wort; ja, die kann’s! Eh’ ich eben davon lief, hab’ ich ihr dafür die Hand gedrückt und ihr gesagt – ich weiß nicht mehr, was. Ja, so ein Mädchen kann, was es will! – Leb’ wohl, Karl; auf Wiedersehen, Ich muß noch ein wenig umherlaufen – so für mich weg, durch die Straßen; da drin ward mir’s zu heiß. Auf Wiedersehen heute Abend, zu Hause!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte Karl zerstreut und drückte ihm die Hand. Er sah ihm nach, wie er sich entfernte; er fühlte, wie wohl es ihm selber that, wieder allein zu sein. Das Bild Annettens trat ihm, da er sie nun für unbestimmte Zeit verlassen sollte, um so lebhafter vor die Seele. Unwillkürlich dachte er an den Tag, an dem er zurückkehren würde, suchte die Zwischenzeit hinwegzublasen, die ländlichen Sorgen und Nöthe, die ihn erwarteten, sich klein und kleiner zu denken. Der Blick, mit dem sie ihn vorhin besänftigt hatte, schien von Neuem auf ihm zu ruhen und ihn schüchtern um schnelle Rückkehr zu bitten. Seine ganze Seele wallte auf, und er eilte, es ihr zu versprechen. Es dünkte ihn fast unmöglich, davonzugehen. Er nickte ihr zu, wie wenn er sie vor sich sähe, bewegte die Lippen, wie um ihr laut zu sagen, daß er bald wiederkomme, und verlor sich in alle die herzlichen, empfindungsvollen Tändeleien, in denen sich ein jugendliches Herz mit dem Gegenstände seiner überwallenden Gefühle beschäftigt.

So wanderte er vor sich hin, zum Thor hinaus, auf der alten Landstraße, die an dem hügeligen Flußufer entlang führt, im vollen Nachmittags-Sonnenschein und in der lieblichsten Maienluft, die ein sanfter Wind von Süden her bewegte. Er sah um sich her und ward lebhaft gerührt; die Gegend, die ihn sonst nie von Herzen erbaut hatte, schien ihm heute so schön; der Fluß breitete sich so weit, so blau hinaus, die Wolken leuchteten wie Schneegebirge über dem Saatgelände, die Lerchen in der Höhe, die Wachteln im Feld sangen so eindringlich, und aus dem Wald, dem er entgegentritt, lockte der Finkenschlag und schienen die unermüdlichen Meisen ihn anzurufen. Er wanderte immer weiter, tief in’s Gehölz hinein, von der Straße weg; es that ihm wundersam wohl, über die knackenden dürren Aeste hinzuschreiten, das alte rothe Laub rascheln zu hören und dann wieder, mit einem Blick nach oben, das junge Grün der Wipfel, den dunkelblauen Himmel und die ziehenden Wolken überspinnen zu sehen. So glaubte er über seine eigene Vergangenheit hinwegzutreten und in ein neues Leben hinauszustarren. Wie singende Vögel umgaukelten ihn seine Hoffnungen und schienen von Ast zu Ast neben ihm herzufliegen. Wie man sich als Kind in zauberhafte Märchenwälder hineindenkt, wo tausend räthselhafte Stimmen uns aufregend und sanft betäubend umschwirren, so schien er heute unter lauter Wunderbäumen, unter einem unbekannten Himmel hinzugehen; der Maienwind wühlte in seinen Adern, seine Augen füllten sich mit Gluth, und ein ganz neuer Lebenshauch schien ihn, wie ein Lufthauch, der die Segel schwellt, leichter dahinzutragen.

So war er schon lange, auf keinen Weg mehr achtend, über Moos und Blätter und Baumwurzeln hingeschritten, als sich auf einmal der Wald vor ihm lichtete und an der tiefen Ecke, die hier ein Saatfeld in das Gehölz hineinschnitt, eine mächtige, wohlbekannte Eichengruppe ihm gegenüber aufragte. Er erkannte zu seiner Ueberraschung, daß er, ohne es zu wissen und zu wollen, an der Grenze des im Wald versteckten Vorwerks, am Lieblingsplatz Annettens angelangt war. Das hügelige Land dehnte sich zur Rechten, der breite Fluß lag wie ein See, wie ein blaues Auge mitten drin. Oben im jungen Laub sprangen die Eichkätzchen von Baum zu Baum; sonst war es hier wunderbar still. Karl ging träumerisch auf die Eichen zu; er glaubte ein helles Kleid zwischen ihnen schimmern zu sehen. Seine Schritte beschleunigten sich. Endlich stand er unter den hohen Bäumen. Am Fuß der letzten, herrlichsten Eiche, deren Zweige breiten Schatten ausstreuten, saß wirklich Annette und rief ihm mit überraschender Gewalt ein Bild vor die Seele, das daheim in seinem Herrenhaus hing, das er als Knabe so oft in schwärmerischer Träumerei betrachtet hatte. Ein junges Mägdlein im Wald, auf einer hohen Baumwurzel sitzend, mit sanften Augen herausblickend; den breiten Strohhut am Arm, die Füßchen in rothen Schuhen nachlässig ausgestreckt, ein Lied oder ein singender Gedanke auf ihren kindlichen Lippen. So sah er hier Annette vor all’ seinen Sinnen, in lieblichster Wirklichkeit. Sie bemerkte ihn nicht. Ihr Blick träumte schräg zur Seite hinaus, – was sie zu lieben schien. Ihr dunkles Haar legte sich ihr frei, in lockiger Verworrenheit um die Stirn, wie wenn es noch nie Band und Schleifen gekannt hätte. Die Hände ruhten im Schooß, ein aufgeschlagenes Büchlein lag daneben; der stroherne, rothbebänderte Sommerhut hing ihr am Arm, das blaßgelbe Kleid floß über die grünbemoosten, schlangenartigen Baumwurzeln hin; – nur die kleinen rothen Schuhe fehlten. Karl trat in seiner ganzen frühlingsseligen Erregung heran. Bei seinen knisternden Schritten fuhr sie aus ihren Gedanken auf, starrte zu ihm hin, und wie Purpur überlief es ihre Wangen.

Er zog seinen Hut, verneigte sich mit bescheidener Vertraulichkeit und redete sie an: wie glücklich es ihn mache, sie noch einmal zu sehen; sie an diesem schönsten Frühlingstage so unerwartet an diesem holden Platze zu entdecken. Er blickte auf ihr Büchlein herab und erkannte dasselbe Liederbuch, das auch ihn überall zu begleiten pflegte. Sein scharfes Auge sah, daß sie das „Mailied“ aufgeschlagen hatte. Unwillkürlich fing er an, den glückseligen Text mit leiser Stimme vor sich hin zu sprechen. Annette sah ihn mit halb beglückten, halb verlegenen Augen an. Sie erröthete von Neuem und warf dann ängstliche Blicke hinter sich. Er folgte ihnen und sah nun zu seinem Schrecken hinter einer andern Eiche, in einem hellgrauen Sommerkleid, einen mächtigen Hut auf dem Kopf, ein Buch auf den Knieen, die alte Demoiselle Merling sitzen. Sie schien zu lesen, schielte aber über das Buch hinweg zu den Beiden hinüber.

Der sehr verstörte Jüngling rang nach Fassung; er hatte sich mit Annetten ganz allein gedacht. Er vergaß fast zu grüßen. Indessen stand die Alte langsam auf, näherte sich mit einem zweideutigen Lächeln und fragte ihn, was für ein Zufall, indem sie das Wort betonte und Annette forschend dabei ansah, ihn gerade hierher geführt habe? – „Sie sind nur leider sehr spät gekommen, lieber Charles,“ setzte sie boshaft hinzu. „Denn wir Beide, wir werden uns wieder auf den Retourweg machen müssen. Der Weg ist weit, und die Sonne schielt schon sehr! Leben Sie wohl, lieber Charles. Es war schön von Ihnen, daß Sie sich uns noch einmal gezeigt haben. Reisen Sie glücklich.“

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_484.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)