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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 30.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


Unterdessen hatte das junge Volk sich wieder gepaart; der Tanz sollte beginnen. Karl widerstand es, teilzunehmen oder einsam Zeuge zu sein. Er ging in’s Nebenzimmer, wo einige der älteren Herren spielten und rauchten; fand es auch hier unerträglich, sich ihren Bitten und Fragen auszusetzen, trat in’s Freie hinaus und überließ sich unter dem warmen Nachthimmel ganz seinen erregten Gefühlen.

Vor der Thür stand eine Bank; er saß hier lange, in eine Ecke gedrückt, Annettens weißes Kleid und helläugige Seele vor den geschlossenen Augen. Endlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter; Wilhelm war neben ihn getreten und sah ihn verwundert an.

„Hast Du geschlafen, Karl? Man sucht Dich überall, – nur nicht auf der Straße. Was ist in Dich gefahren, daß Du zwei Dutzend junge Mädchen nach Dir seufzen lässest?“

Der Träumer stand auf und rieb sich unwillkürlich die Stirn, wie um sich in die Wirklichkeit zurückzurufen.

„Uebrigens, Karl,“ fuhr Wilhelm mit einem fröhlichen Lächeln fort, „ich bin meiner neuen Liebe, meiner schönen Amalie, schon wieder untreu geworden. Es ist nichts mehr damit! Ich bin ganz verliebt. Ganz weg;“ – und er legte seine warme Hand von Neuem auf Karl’s Schulter und sah ihm auf’s Zutraulichste und Heiterste in’s Gesicht – „wieder einmal auf meine acute Weise! Du weiß noch, Karl, was unser alter Doctor einmal zu uns sagte: Du wärst eine chronische Natur, ich eine acute! Ich bin’s, das muß wahr sein. Ich bin weg. Auf dem Fleck könnt’ ich sie heirathen. Sie ist reizend, Karl; anders als die Andern. Aber leider will sie jetzt fort, und kein Mensch kann sie halten.“

„Von wem sprichst Du?“ fragte Karl. „Ich verstehe kein Wort.“

„Nun, von Demoiselle Annette! Von wem sonst? Du hast sie ja auch gesehen, aber Du bist ihr davon gelaufen. Sie fragte nach Dir. Ich habe lange, lange mit ihr gesprochen. Was ich da Alles geschwatzt habe, ich weiß es nicht mehr. Aber nun thut ihr der Kopf so weh, der Armen, und sie will nach Hause. Der Abend ist hin, denn ich mag mit Keiner von den Andern mehr tanzen.“

Indem er noch sprach, – ohne zu bemerken, wie mühsam der Bruder sich zu fassen suchte – trat Annette, in ein leichtes Mäntelchen gehüllt, von Demoiselle Merling und einer anderen Dame begleitet, aus der Hausthür hervor und stockte ein wenig, als sie die beiden Jünglinge so unerwartet vor sich stehen sah.

„Ich lasse es mir nicht nehmen, mon enfant,“ eiferte die Alte, „Sie nach Hause zu bringen. Ich habe Sie hier bemuttert und ich fühle die Obligation, Sie unversehrt wieder abzuliefern! Kommen Sie, Dorette!“ – Dorette, das Hausmädchen, erschien auf der Schwelle, den Hut auf dem Kopfe und die Enveloppe der alten Dame in der Hand. Im nächsten Augenblick sah sich schon Annette fortgezogen, hatte kaum noch Zeit, die Verbeugungen der Brüder mit einem flüchtigen Abschiedsgruß zu erwidern, und während Demoiselle Merling erst wahrnahm, wem dieser Gruß gegolten hatte, und nun eifrig zurückwinkte, verschwand sie schon mit ihrem Schützling und der Magd um die Ecke.

„Sie ist auch im Mäntelchen reizend,“ sagte Wilhelm mit einem herzlichen Seufzer und starrte ihr nach. „Karl, das ist mehr als Amalie, das ist ein höheres Wesen!“

„So sagt man, wenn man verliebt ist,“ antwortete Karl und suchte harmlos zu lächeln. „So sagtest Du vor vierzehn Tagen von Amalie, und so wirst Du nach zwei Wochen von einer Dritten sagen.“

„Meinst Du? Ich weiß nicht. Ich bin wenigstens – unendlich verliebt. Du hast Recht, man sollte sich nur unter dem Sternenhimmel aufhalten. O diese Nacht! Diese weiche, warme, weiche Luft! Wie steht es denn mit Dir, Du kalte philosophische Seele?“

„Ich lache ein wenig über Dich,“ erwiderte Karl und wandte sein Gesicht bei Seite. „Du schwärmst recht acut. Ich indessen –“ er wollte noch etwas sagen und wußte nicht, was; seine Gefühle flossen verworren durch einander, ein Scherz schien ihm Unwahrheit und Entweihung, und er verstummte.

„Dieses Sternengewölbe!“ sagte Wilhelm, der von des Bruders Worten nur die Hälfte gehört hatte, und staunte selig hinauf. „Diese Unendlichkeit! Ob man auch da oben auf den Plejaden verliebt ist? Karl, ich bin wie betrunken. Ich habe neuen Wein im Kopf – oder im Herzen. Wie ist es nur möglich, Karl, daß so ein paar Augensterne – ich meine, gegen die Unermeßlichkeiten da oben – uns vorkommen wie eine Welt? und daß uns dabei so groß, so weit, so unendlich wird? Es macht Einen schwindlig, Karl. Warum: mußte sie auch nach Hause gehen! Wenn man nur wenigstens unter ihrem Fenster –“ Er lehnte sich gegen die Wand, starrte nach oben, wie wenn er zu ihrem Fenster hinaufsähe, und schien alle seine Gedanken an das kleine Licht hinter ihrem Vorhang zu richten.

„Die Musik fängt wieder an,“ sagte endlich Karl und raffte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_481.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)