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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Protestantische Charakterköpfe.

Erinnerungen aus der letzten Bremer Versammlung.
Bluntschli. – Zittel. – Schellenberg. – Schenkel. – Heinrich Krause. – Holtzendorff. –Baumgarten. – Karl Schwarz.

Vom Protestantentage? Hier in der Gartenlaube? Du hast Recht, lieber Freund, mit dieser verwunderten Frage. Denn es ist lange, lange Zeit her, über zwanzig Jahre, daß das öffentliche Interesse sich auf die Vorgänge innerhalb der Kirchen gar nicht hingewendet hat. Es gab Wichtigeres zu thun – und zu leiden, als die religiösen Anfechtungen und Bestrebungen sind. Man mußte das eigene Haus erst unter Dach haben. So meinten Alle, die nicht der Ansicht waren, religiöse Dinge seien überhaupt ein für allemal aus dem Kreise allgemeiner Bildung verschwunden.

Indessen liegt in den menschlichen Verhältnissen eine unabweisbare Naturnothwendigkeit, die ihre Entwickelungen im Stillen früh beginnt, um dann, wenn die Zeit erfüllt ist, hervorzutreten mit gebieterischen Forderungen. Bei aller Gleichgültigkeit der öffentlichen Meinung hat im Stillen sich eine religiös-volksthümliche Entwickelung zunächst auf dem Boden der deutsch-protestantischen Gemeinden angesponnen, welcher menschlicher Berechnung nach die Zukunft gehört: das ist der deutsche allgemeine Protestantenverein.

Seine Entstehungsgeschichte ist einfach, er verdankt den Anlaß seines Lebens dem römischen Concordate mit Baden. Die Schwarzen hatten zur Blüthezeit der Reaction, wie allbekannt, durch die Angst der Regierenden begünstigt, ein Netz von Concordaten über Süddeutschland ausgebreitet, um so die künftigen Generationen desto gründlicher dem neunzehnten Jahrhundert zu entfremden. Es ist ein vergebliches Beginnen gewesen, der liebe Gott läßt sich sogar von Päpsten und Priestern nicht mehr vorschreiben, welche Wege er seine Völker führen soll, und aus jedem Giftkorn, welches diese säen, keimt eine Gährung, die heilsam wirkt für des Volkes wahres Wohl. So hat die beabsichtigte Fesselung des badischen Volksgeistes durch das Concordat nur das zur Folge gehabt, daß alle Vertreter der wirklichen Volkswohlfahrt sich wie ein Mann gegen das reactionäre Concordatsministerium erhoben und in den Durlacher Conferenzen des Jahres 1860 so laut zu dem Herzen des Fürsten sprachen, daß seitdem in Baden die Freiheit und der gute Wille mit klarer Einsicht und weitschauender Weisheit vereint das Scepter führen.

Dabei war den Männern, die in Durlach zusammentraten, die gewaltige Macht der Vereinigung klar geworden. Warum lag in ganz Deutschland das religiöse Leben so arg darnieder? Warum darf der Ultramontanismus auf der einen Seite und eine geschichtswidrige, reactionäre Orthodoxie auf der anderen das Volk der Reformation irreführen und mißhandeln? Darum, weil der Mittelpunkt fehlt, um den sich alle Die schaaren können, die mit schlichtem, einfachem Gottvertrauen zugleich die Liebe zu ihrem Volke und die Thatkraft heutiger Bildung vereinigen. Das große liberale Bürgerthum, der Kern des Staates, warum ist es nicht zu spüren in der Kirche? Weil es nicht gemeinsam sich ausspricht in religiösen Angelegenheiten, weil ein Organ fehlt, durch das es rede; weil eine lange Zeit schlaffe, gedankenlose Entwöhnung von oben her in kirchlichen Dingen gepflegt worden ist und mit Ueberdruß Tausende an die Kirche denken, in der sie nichts mehr zu erkennen vermögen, als eine Polizeianstalt der Geister.

Die Form der meisten protestantischen Kirchen ist freilich nicht sehr geeignet, dem strebenden und innerlich gesundesten Theile des Volkes jene durchaus nothwendige Einigung zu bieten. Für das allgemeine Verständniß scheint die Kirche nur aus Pastoren und Beamten zu bestehen, die der übrigen Volksmenge die kirchlichen Lehren vorglauben und vorbeten. Fast ganz scheint die Ahnung geschwunden zu sein, daß die Kirche im Grunde von Jesus als eine Volksgemeinschaft gedacht und angelegt ist. Deshalb hat man sich um die Lehren der Kirche nicht viel mehr gekümmert, sie lagen ja ohnedies so fern dem gewöhnlichen Fühlen und Denken, sie galten so sehr als überschwängliche Geheimnisse (oder sollten wenigstens so gelten), daß man es nicht der Mühe für werth hielt, nach ihnen hinzuschauen.

So ist die fast unglaubliche Thatsache möglich geworden, daß eine aller freien Wissenschaft und Bildung grundsätzlich feindselige Orthodoxie oder eine noch ungesundere pietistische Halborthodoxie in den Ministerien und Consistorien, auf den Kathedern der Universitäten, auf den Kanzeln fast ganz Deutschlands zur Herrschaft gelangt ist, die heut’ zu Tage mit grenzenlosem Hochmuthe jeden freisinnigen Theologen aus der Kirche hinauszudrängen sucht und offen die besten Bildungsschätze unseres Volkes verhöhnt.

Diese Art von Kirchenregierung und Pastorenthum wird uns im Kampfe gegen den Jesuitismus nicht schützen. Im Gegentheil, man wird sich, wie es in Baden noch jüngst bei den Parlamentswahlen geschehen, mit dem Jesuitenthum gegen das liberale Bürgerthum verbinden. Viele protestantische Regierungen haben bei aller Orthodoxie mit den Jesuiten seit 1848 geliebäugelt und ihnen die Wege geebnet. Das blendende, schlangenkluge Wort, daß der Altar den Thron schützen müsse, hat auch besseres Wissen oft zum Schweigen gebracht.

Eine nachhaltige Schutzmauer gegen den Ultramontanismus bietet dem Volke nur eine erneuerte Kirche! Nicht Pastorenkirche, sondern Gemeindekirche! Denn Unfreiheit, Geistessclaverei und Herrschsucht lassen sich nicht bekämpfen durch ihres Gleichen, wohl aber durch Freiheit und Gerechtigkeit! Heuchelei sinkt nicht in Staub durch Heuchelei, sondern durch die Begeisterung für Wahrheit!

Der Protestantenverein ist nun der großartige Versuch, das Volk aufzurütteln aus seinem gedankenlosen Schlaf, daß es sehe, wie es um seine eigenthümlichste Eigenschaft, um seine deutsche freie Frömmigkeit gebracht wird. Die Männer, die diesen Verein gründeten, die im Herbste 1863 in Frankfurt zusammentraten, sie trugen alle das Weh im Herzen über den religiösen Verfall Deutschlands, sie haben Ernst gemacht mit dem Eingeständnis;: die Kirche muß anfangen sich zu verneuern aus dem volkstümlichen Geiste der christlichen Freiheit heraus!

Durch den Protestantenverein tritt ein Grundsatz in das kirchliche Leben ein, der noch niemals in demselben vereinigend thätig gewesen ist: nicht der Inhalt des Glaubensbekenntnisses macht zum Christen, sondern der Wille und die Gesinnung. Sind diese letzteren entsprechend dem hohen Bilde Jesu, so ist der Mensch ein Christ, ein vollberechtigtes Mitglied der christlichen Kirche, gleichviel, ob er an die Wundergeschichten der heiligen Schrift glaubt oder nicht, gleichviel, welche Vorstellung er sich von dem Wesen Jesu macht, gleichviel, ob er die Lehren des Mittelalters über Versöhnungstod und stellvertretende Genugthuung annimmt oder nicht. Demnach muß in der Kirche gelten: völlige religiöse Lehrfreiheit, Berechtigung der Gemeinden in allen kirchlichen Angelegenheiten, Anerkennung jedes gewissenhaften sittlich-religiösen Strebens, völlige Vereinsfreiheit, Wetteifer nicht im Verdammen, sondern in den Werken der Liebe. Die Kirche muß werden ein Bündniß aller religiösen Menschen aller Richtungen, die überhaupt Christen sich nennen. Keiner soll in ihr nur geduldet, jeder soll berechtigt sein, der sich zur Kirche bekennt.

Natürlich hat der Protestantenverein eine Fluth von Haß und Verleumdung gegen sich wachgerufen. Generalsuperintendenten wetteifern mit den schmutzigen Winkelblättchen der Pietisten, ihn anzugeifern. Er ist indeß ruhig vorwärts gegangen. Wie er erwuchs aus Baden, hat er zuerst in Süd- und Mitteldeutschland einen fruchtbaren Boden gefunden, dann ist er weitergegangen nach dem Norden. Frankfurt, Eisenach, Neustadt an der Haardt, Bremen bezeichnen die Stationen seiner jungen, kräftigen Wanderung durch Deutschland. Ueberall hat er laut angeklopft an die verschlossenen Thore gleichgültiger deutscher Bürger: macht auf, es beginnt Tag zu werden! Und schon hat sich’s gewaltig geregt, – auch der Krug der herrschenden und verfolgenden Orthodoxie geht so lange zum Wasser, bis er bricht.

Und wer sind die Männer, die aus der Mitte des Vereins als Führer hervorragen?

Gern würden wir zwei Namen an die Spitze stellen, deren Verdienst um die Gründung und Belebung des Vereins unvergeßlich ist, aber sie sind nicht mehr unter den Lebenden: der eine war Häusser, der deutsche Geschichtsschreiber, und der andere R. Rothe, der wundersam innige und tiefe Theolog. Jener hat vom Standpunkte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_470.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)