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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

und gekauft. An einem Laden hängt eine ganze Sennentracht in Miniatur für einen Knaben (Lederkäppchen, rothe Weste, gelbe Hosen, messingbeschlagene Träger mit darauf abgebildeten Kühen). Die Männer, die zur Landsgemeinde kamen, sind indessen nicht so gekleidet, sondern feierlich schwarz, mit dem unvermeidlichen Zylinder. Die Frauen dagegen tragen ihr malerisches buntes Landescostüm: rothe Mütze, gold- und silberblitzendes Mieder und färben- und faltenreichen Rock. Die in Trauer befindlichen schmücken das Haupt mit einer großen schwarzen Flügelhaube. Alles summt und schwirrt durch einander, man unterhält sich angelegentlich über die Fragen des Tages, kritisirt die Vorübergehenden, macht Geschäfte ab und fragt dem Befinden der Familie nach, wohl auch mit oft ebenso vielem Interesse jenem des lieben Viehes. Und könnten wir nun unbemerkt diesen Gesprächen lauschen, so vernähmen wir ohne Zweifel manche dankenswerthe Aufschlüsse über das Land und seine Verhältnisse.

Sonst nahmen die von der Landsgemeinde zu treffenden Wahlen an diesem Tage das ungetheilte Interesse in Anspruch. Es war von ungeheurer Wichtigkeit, wer Landammann, Landeshauptmann, Landesfähnrich (diese Aemter sind noch Ueberreste früherer kriegerischer Zeiten) werden sollte. Heute aber sind diese persönlichen Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung; die Frage der Verfassungsrevision beschäftigt alle Gemüther in der eingreifendsten Weise. Wird sie dem Lande zum Wohle gereichen oder nicht? Müssen wir uns dem Zeitgeiste beugen? Müssen wir Neues einführen, blos weil es Andere thun? Oder sollen wir im Fortschritt zurückbleiben, blos weil wir den Eigensinn haben, nichts Neues zu wollen? So ungefähr hören wir fragen.

Die Verfassung von Appenzell-Innerroden – fügen wir zur Erläuterung dieser Fragen bei –, eines Ländchens von zwölftausend Seelen auf sieben und einer halben Quadratstunde, die zur Hälfte von unbewohnbaren Bergen und Felsen eingenommen sind, datirt von 1829, eigentlich aber von mehreren Jahrhunderten her und ist die einzige der Schweiz, welche noch ganz den ursprünglichen, von der französischen Revolution nicht beeinflußten Geist verräth. Ihre größten Uebelstände (von vielen anderen zu schweigen) sind die Wahlart der Behörden und die Vermengung der Staatsgewalten. Die (nach der Landsgemeinde) oberste Behörde, der Große Rath, wird nämlich nicht nach der Volkszahl, sondern zu gleichen Theilen von den sieben Roden gewählt, und diese bilden nicht etwa abgegrenzte Gebietstheile, sondern jede besteht aus einer gewissen Anzahl von Geschlechtern, die im ganzen Lande zerstreut sind und sich zur Vornahme der ihnen zustehenden Wahlen besonders versammeln. Ferner sind die vollziehenden und richterlichen Functionen denselben Behörden übertragen, und es giebt kein von der Regierungsgewalt unabhängiges Gericht, also keines, das einem Privaten gegen den Staat Recht geben könnte und würde. Endlich ist trotz der Demokratie die gesammte Verwaltung und Rechtspflege geheim und selbst ihre Resultate werden weder durch den Druck veröffentlicht, wie in allen anderen Cantonen, noch sonst bekannt gemacht.

Doch horch, – es schmettert Blechmusik, und – bum – bum – fällt die große Trommel dazwischen. Alles läuft zusammen, Alles rennt den festlichen Klängen entgegen. Vom Schulhause aus, das am Landsgemeindeplatz liegt, und vor welchem Recruten in Uniform mit aufgepflanztem Bajonnet Wache halten, bewegt sich die Festmusik, alle Mitglieder in schwarzer Kleidung und Hut. Es ist dies eine Neuerung in Innerroden. Bis vor wenigen Jahren war es ein Trupp Trommler und Pfeifer, die mit einem eigenthümlichen, alten, dudelnden Marsche die Beamten des Landes zur Landsgemeinde abholten, jetzt ist die modernere türkische Musik an ihre Stelle getreten, die jedoch in noch weiter vorgeschrittenen Orten bereits überall der reinen Blechmusik gewichen ist.

„Und feierlich nach alter Sitte, mit langsam abgemessnem Schritte“ ziehen die Festmusiker nach dem Rathhause, das beinahe am anderen Ende des Fleckens liegt. Nur kurzes Warten im summenden Menschenschwarme, und sie kehren zurück, hinter ihnen in schwarzen Mänteln, wie man sie manchen Orts bei Leichenbegängnissen trägt, schreiten die Beamten: der „regierende Landammann“, Herr Rechsteiner, einem alten Militär nicht unähnlich, ein freundliches und doch kräftiges röthliches Gesicht mit kurzem Schnurrbart und hoher Stirn; der Landschreiber, Herr Sonderegger, ein intelligent aussehender blasser junger Mann, trotz seiner Jugend der Führer der Revisionslustigen und Verfasser einer gut geschriebenen Broschüre dieser Tendenz; der Landweibel im schwarz und weißen Landesmantel, wie ihn früher die Diener der Gesandten sämmtlicher Cantone an der selig verstorbenen Tagsatzung trugen und damit in der Bundesstadt ein seltsames Farbenspiel darboten; hinter ihnen die Hauptleute und Rathsherren.

Landammann, Schreiber und Weibel nehmen ihren Platz auf der Bühne, hinter den Schwertern der Gewalt. Der Landschreiber legt feierlich das Landesgesetzbuch, in schwarzes Leder eingebunden und mit Silber beschlagen, vor sich nieder auf die Brüstung, und es entsteht lautlose Stille unter der auf dem großen Platze sich verbreitenden Menge der Landleute, die nach dem Beispiel des Landammanns nun alle die Häupter entblößen. Nur die die Versammlung umschwärmenden Frauen und Kinder sind keineswegs ruhig. Zwei Bundesräthe (Mitglieder der obersten schweizerischen Vollziehungsbehörde in Bern), Näff und Schenk, und Regierungsrath Saxer aus dem Nachbarcanton Sanct Gallen befinden sich bescheiden unter der zuhorchenden Menge.

Still, jetzt beginnt die Eröffnungsrede des Landammanns, wegen seines nicht sehr starken Organs und der unruhigen Umgebung schwer zu verstehen. Und das war schade; denn sie wäre würdig, weit hin in die Lande gehört zu werden. Statt, wie gewöhnlich, sich, in Ermangelung wichtiger Geschäfte, in der ausländischen Politik umzusehen, hielt der erste Beamte des Ländchens mit edlem, männlichem Freimuthe dem Volke, das heute über seine Stellung zu verfügen hatte, einen Spiegel vor von dem, was es bisher gewesen und was es werden sollte. Es war bisher seines starren Festhaltens an althergebrachten Formen wegen sprüchwörtlich geworden und man war rings umher geneigt, ihm jede Befähigung zum Fortschritte abzusprechen. Dieser „Verleumdung“ trat der Landammann entgegen und äußerte die frohe Hoffnung, Innerroden werde dieselbe Lügen strafen. Er zeigte klar, daß die Bestrebungen, eine Verbesserung der Zustände herbeizuführen, nur das Wohl des Volkes und Landes bezwecken, daß sie keineswegs, wie Manche fürchteten, die Regierungsgewalt befestigen oder stärken, sondern vielmehr die Rechte des Volkes vermehren und sichern werden. Bisher gab das Ländchen für Armenunterstützungen (diejenigen der einzelnen Roden nicht einmal gerechnet) etwas mehr aus, als für Straßen, Erziehung, Polizei und andere gemeinnützige Unternehmungen zusammen. Solche Zustände müssen sich gründlich ändern, wenn Appenzell-Innerroden nicht mehr als das Eldorado des Müßiggangs und des geistigen Stillstandes bezeichnet werden soll.

Auf diese in gutem Deutsch gesprochene treffliche Eröffnungsrede folgten nun die jährlichen Erneuerungswahlen sämmtlicher Beamten. Zuerst kam der „regierende Landammann“ (dem in den „reinen Demokratien“ immer ein „stillstehender Landammann“ als Stellvertreter zur Seite steht) an die Reihe. Die Abstimmung geht nach altväterischer Weise so vor sich, daß jeder berechtigte Theilnehmer an der Versammlung zur lauten Nennung eines Namensvorschlags befugt ist, wovon indessen stets sehr mäßiger Gebrauch gemacht wird. Diese Namensvorschläge werden vom Vorstände der Versammlung notirt und der Reihe nach mit dazwischen eintretenden Pausen vorgelesen. Wer für einen Vorschlag stimmt, hebt bei Nennung desselben die rechte Hand in die Höhe, nicht selten, bei erregter Stimmung, mit dem markdurchdringenden Rufe „uuf“ (auf)! Diejenigen, welche nach dem Urtheile des Vorstandes und seiner Assistenten (der neben ihm stehenden Beamten) die wenigsten Stimmen auf sich vereinigen, fallen aus der Wahl und es wird zwischen den Übrigbleibenden auf’s Neue abgestimmt, bis es sich nur noch um zwei Namen handelt, und wer von diesen die meisten Hände aus sich vereinigt, wird als gewählt bezeichnet. In Innerroden wird dieser Wahlact noch schleppender als anderswo, einerseits durch die Vorschrift der Verfassung, daß in der Regel nur ein Vorschlag ausfallen darf; andrerseits durch die bei jedem Wahlgange übliche lange Anrede: „Hochgeachteter Herr Landammann, hochgeachtete Herren, getreue, liebe Landleute und stimmberechtigte niedergelassene Schweizerbürger,“ ein Zopf, welchen die angestrebte Reform abschneiden dürfte. Da nun als regierender Landammann der bisherige, Herr Rechsteiner, auch wieder vorgeschlagen wurde, so trat er von der Bühne herab, ließ sich den schwarzen Amtsmantel abnehmen, stand als einfacher Bürger da, und der Landschreiber leitete die Abstimmung. Rauschendes Mehr bestätigte aber den bisherigen Landesvorstand; man zog ihm den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_395.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)