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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Dorothea Trudel, die Heilige von Männedorf.

Wer je auf einem der zahllosen Dampfboote, die den Zürchersee nach allen Seiten durchstreifen, eine Fahrt in der Richtung von Rappersweil angetreten, dem ist gewiß auch die Schaar von Wallfahrern zur berühmten Mutter Gottes von Einsiedeln aufgefallen. Das wunderthätige schwarze Gnadenbild jener Benedictiner-Abtei, die Notre Dame des Hermites, wird an Wirksamkeit von keiner Concurrenzmadonna übertreffen; sein Glanz strahlt so weit wie derjenige der päpstlichen Tiara, und Tausende und Tausende von Pilgern führen die Dampfer jedes Jahr von Zürich nach Richtersweil, von wo aus sie zu Fuß das Hochthal von Einsiedeln ersteigen. Es sind nicht Vertreter der höheren Stände, welche die Hauptmasse dieses Glaubensheeres bilden, und so finden wir sie denn auch regelmäßig auf dem zweiten Platze des Verdeckes, Kopf an Kopf gedrängt, meist ohne alles Gepäck, und als einzige Reisemitgabe mit einem großen Regenschirm ausgerüstet. Dabei sind sie gutmüthige, heitere Leute, welche die Neckereien des Schiffsvolkes gleichmüthig ertragen und nicht selten mit Zinsen heimzahlen.

Auf demselben Verdecke begegnen wir aber auch einer andern Sorte religiöser Reisenden, die sich von den Einsiedeln-Wallern strenge fern halten. Sie treten nur einzeln auf, ihre Mienen tragen den Stempel finstern Brütens oder religiöser Schwärmerei. Auch sie sind von Leibes- und Seelenleiden gemartert und hoffen, im eifrigen Gebete Heilung zu finden. Ihr Reiseziel ist aber nicht die Benedictiner-Abtei, sondern Männedorf am Zürchersee; ihr Gnadenbild ist keine hölzerne Madonna, ihr Zufluchtsort ist die Gebetheilanstalt von Dorothea Trudel.

Der Name dieser frommen Schwärmerin ist so berühmt geworden, ihr Leben ein psychologisch so bemerkenswerthes und der Zulauf zu der seltsamen Anstalt ein so auffallender, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, sie hier etwas näher zu beleuchten.

Dorothea Trudel war das Kind armer, schlichter Landleute. Ihr Vater gehörte nicht gerade zu den Frommen im Lande, und diese stellen ihm durchaus kein glänzendes Sittenzeugniß aus. Nach den vorhandenen Bildern war er ein Mann mit harten, knochigen Zügen, wie man sie unter den Landleuten des Cantons Zürich häufig trifft. Die Mutter dagegen wird als erleuchtete Frau geschildert und ihr Gedächtniß lebt in pietistischen Tractaten fort. Dorothea’s Erziehung war sehr einfach, die Schule besuchte sie nur vier Jahre; mit sechszehn Jahren wurde sie confirmirt und beschäftigte sich zuerst mit Seidenweberei, in späteren Jahren lernte sie das Blumenmachen. Als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, machte der plötzliche Tod einer Altersgenossin einen tiefen Eindruck auf ihre empfängliche Seele; sie wurde tiefsinnig, machte sich Vorwürfe über ihr bisheriges Leben und ängstigte sich über ihr Seelenheil. Ein tiefes Körperleiden gesellte sich hinzu, die Familie und die Aerzte sahen den Zustand bedenklich an und sollen sie endlich aufgegeben haben. Die Kranke sah aber der angeblichen Todesgefahr heiteren Angesichtes entgegen und bat um die einzige Vergünstigung, keine Arznei mehr nehmen zu dürfen. Ihre Leiden nahmen allmählich einen bestimmteren Charakter an; die Wirbelsäule wurde der ausschließliche Sitz derselben, eine sehr verunstaltende Verkrümmung des Rückens stellte sich ein. Mehr als fünfzehn Jahre dauerte diese Leidenszeit, während der aber Dorothea ihren Beruf ausüben konnte.

Krankheiten von so langer Dauer haben bei jugendlichen Naturen immer einen tief eingreifenden Einfluß auf das intellectuelle und psychische Leben. Die gezwungene Ruhe des Krankenlagers, das Abgeschiedensein von der Außenwelt und den Zerstreuungen des Jugendlebens drücken solchen Märtyrern einen charakteristischen Stempel auf. Für Verstandesmenschen und kräftige Naturen wird eine solche Leidenszeit zu einem Schleifsteine des Geistes, und früh gezeitigt, voll befruchtender Ideen, reich an Kenntnissen und mit schlagfertigem Urtheile treten sie nach ihrer Genesung in’s Leben zurück. Gefühlsmenschen dagegen wenden sich unter dem Einflüsse solcher Prüfungen mit vollen Segeln der religiösen Exaltation zu und werden Schwärmer und Schwärmerinnen. So auch Dorothea Trudel. Sie setzte sich in unmittelbaren Verkehr mit ihrem Heiland; ihm gab sie sich vollständig hin, bald hatte sie seine Führung, bald verlor sie dieselbe und war darüber voll Herzeleid. Sie bat ihn um Verzeihung und wußte bestimmt, wann sie dieselbe erhalten habe.

Die erste Gebetheilung, welche Dorothea gelang, war in der ersten Zeit ihrer Erleuchtung. Bei einem ihrer Verwandten wurden fünf Arbeiter schwer krank. Sie verpflegte dieselben eine Woche lang unausgesetzt bei Tag und Nacht. Die Krankheit wich aber nicht und schien (wie in den meisten Trudel’schen Fällen) aller Arzneien zu spotten.

„Da warf ich mich auf meine Kniee und rief in meinem Kämmerlein den Heiland an, wie wenn ich ihn lebendig vor Augen sähe. Er wisse ja, daß ich gläubig sei, mit mir solle er an das Krankenlager treten, sein Wort werde helfen.“

Gestärkt trat sie zu den Kranken zurück, betete inbrünstig mit ihnen und die Schmerzen waren verschwunden, die Krankheit gehoben. Im Canton Zürich, wo viele religiöse Secten vertreten sind und die Pietisten über einen starken Anhang verfügen, konnte das Ereigniß nicht unbekannt bleiben.

Dorothea wurde viel zu Kranken, oft in größere Entfernungen, gerufen, damit sie mit ihnen bete, sie erhebe und heile. Man stellte ihr vor, daß sie im Besitze einer wunderbaren Glaubens- und Gebetkraft sei, die sie zum Heile der Menschheit zu verwerthen verpflichtet sei. Schon brachte man ihr einzelne Kranke in’s Haus, damit sie dieselben in Pflege behalte und durch Gebet herstelle. Durch das Vermächtniß eines reichen Onkels waren ihre Vermögensverhältnisse besser geworden. So ließ sie sich denn von einer ihrer ehemaligen Kranken bestimmen, ein Haus zu kaufen, um Raum zur Aufnahme einer größeren Zahl Kranker zu gewinnen. Im Jahre 1857, als ihr Ruf bereits über die Grenzen der Schweiz gedrungen war, wurde sie vor die Behörden beschieden und wegen unbefugter Ausübung der Heilkunde zu einer Geldbuße von sechszig Franken verurtheilt. Sie zahlte dieselbe ohne Widerstreben, fuhr aber mit ihrer Thätigkeit unbeirrt fort. Kranke wurden außerhalb des Hauses besucht, andere in die Anstalt aufgenommen, die sich von Jahr zu Jahr erweiterte. Zu dem ursprünglichen Hause wurden zwei neue angekauft, Wartepersonal wurde beigezogen und so die Anstalt mehr und mehr einem Krankenhause ähnlich. So groß wurde der Zudrang zu derselben, daß Anfangs 1861 dieselbe gleichzeitig achtzig Kranke beherbergte. Die Behörden setzten Dorotheen keine Schwierigkeiten mehr entgegen; die Aerzte fanden es nicht zeitgemäß, durch weitere gerichtliche Schritte den Glanz der Märtyrerkrone über die Anstalt auszubreiten.

Die Bewohner des Dorfes endlich waren theils Anhänger der „Döde“ und besuchten die Gebetstunden des Hauses, theils zogen sie aus der Menge herbeiströmender Fremder Nutzen, oder sie verhielten sich diesem schwärmerischen Treiben gegenüber gleichgültig. Klagen wegen Ausschreitungen irgendwelcher Art lagen nicht vor. Selbst die Aerzte durften sich nicht über Mitbewerbung beschweren, da die „Heilige von Männedorf“ keinerlei Arzneimittel anwandte und nur durch Gebet, Auflegen der Hände, Umarmen, in seltenen Fällen durch Salben mit Baumöl ihre Curen vollzog. In diesem gemüthlichen Charakter spielte die Idylle von Männedorf fort, als plötzlich Anfangs 1861 eine Gewitterwolke sich über der Gebetheilanstalt erhob und deren Fortdauer ernst in Frage stellte.

Unter den verschiedenen Arten von Kranken, die dort Aufnahme und Verpflegung fanden, spielten von jeher die Geisteskrankheiten eine große Rolle. Vom ärztlichen Standpunkte aus muß dies als ein Mißgriff bezeichnet werden, da nur sehr wenige Formen dieser Störungen unter dem Einflüsse der apostolischen Behandlung eine Besserung finden, weitaus die größere Zahl in Folge dieser künstlichen Aufregung sich verschlimmern wird und im Allgemeinen derartige Leidende am besten solchen Anstalten anheimfallen, die für diesen Zweck gebaut und eingerichtet sind. Ein junges Mädchen aus N., eine Näherin, war als gemüthsleidend zu der Trudel gebracht worden. Sie behandelte sie mit Händeauflegen, Salböl und Gebet, wobei aber die Krankheit sich durchaus nicht besserte, sondern zur Raserei und Tobsucht steigerte, so daß man der Unglücklichen die Zwangsjacke anlegen mußte. Der herbeigerufene Arzt bestand auf der Entfernung derselben aus der Anstalt. Jungfer Trudel widersetzte sich anfänglich, gestaltete dann aber die Versetzung der Tobsüchtigen in eine eigentliche Irrenanstalt. Auf dem Wege dahin starb aber die Unglückliche. Ein zweiter Fall

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_360.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)