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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Es war an einem Mittage des unfreundlichen Mai des letzten Jahres, daß ich im Dorfe Splügen, dem malerischen Bergorte, welchen unsere Abbildung, allerdings im Sommergewande, zeigt, am Fuße des gleichnamigen Berges, ankam. Eine jener riesigen Archen auf vier Rädern, eidgenössische Postwagen genannt, hatte mich vor dem stattlichen Gasthaus zur Post abgesetzt, wo das officielle Mittagsmahl unser harrte. Um fünf Uhr früh war ich von Chur abgereist, bei einem strömenden Regen, der hie und da unter dem Einflüsse eines rauhen Ostwindes sich zu Schneeflocken verdichtete. Von einem Genusse der Schönheiten der interessanten, stellenweise classischen Route war keine Rede. Der Wind trieb Flocken und Regentropfen so an die Wagenfenster, daß selbst die nächstliegenden Gegenstände sich nur undeutlich aus dem dunkeln Nebelhintergrunde abhoben. Felsberg, Reichenau, die Via mala, die prächtigen Burgruinen – das Alles ging uns verloren. Es blieb uns nichts übrig, als trotz des Frühlings, dicht in den Mantel gehüllt, mit offenen oder geschlossenen Augen zu träumen. Es war daher auch keine rosige Stimmung, in welcher die Insassen des Wagens den Fuß wieder auf die Erde setzten, verschlafen, steif vom langen Sitzen, fröstelnd – mit all’ dem leiblichen und seelischen Mißbehagen, das man nach einer solchen Frühmorgenfahrt bei kaltem Regenwetter empfindet. Zu diesem Katzenjammer gesellte sich aber noch die Besorgniß, es möchte in Folge des plötzlichen Schneefalls des Morgens der Paß unfahrbar geworden und uns beschieden sein, einen Tag lang in Splügen zu bleiben, bis die Passage wiederhergestellt sein würde. Solche Ueberraschungen werden dem Reisenden nicht selten zu Theil, namentlich auch am Fuße des Gotthard. Glücklicher Weise gab der Postmeister gleich beim Aufsteigen über diesen Punkt die beruhigendste Auskunft. Bei mir selbst verlor sich das Mißbehagen, so wie ich die schlaftrunkenen Augen recht öffnen konnte.

Der Himmel hatte ausgetobt, Regen und Schneegestöber waren, verschwunden, ein freundlicher Sonnenblick fiel auf das stattliche Dorf Splügen und vor uns lag in seiner ganzen Glorie der imposante Berg mit seinen malerischen Zacken – im weißen Schneegewand zwar, aber von einer warmen Maisonne beschienen und und in lieblichen Farbentönen erglänzend.

Das Dorf Splügen liegt bereits viertausend vierhundert und dreißig Fuß über dem Meere[1] und gehört also zu den höchstgelegenen Dörfern Europas. An der Grenzscheide zwischen zwei sehr besuchten Schweizeralpenstraßen – denjenigen über den Splügen und den Bernhardin – stehend, ist es der Mittelpunkt eines sehr regen Verkehrs, der viel Wohlstand in das ursprünglich arme Bergdorf gebracht hat. Denn der Splügen ist jetzt der weitaus am meisten bereiste Schweizerpaß, und außer den Kaufleuten und den Touristen lockt die romantische Gegend und der Reichthum an Mineralien und seltenen Alpenpflanzen jeden Sommer auch Schaaren von Künstlern und Naturforschern in diesen Thalkessel hinaus. So ist denn auch das Gasthaus zur Post in Splügen eine vortreffliche Herberge, die allen Ansprüchen an Comfort Genüge leistet.

In dem geräumigen Speisezimmer hatte sich bereits eine zahlreiche Gesellschaft um den Mittagstisch versammelt, meist Kaufleute aus der Lombardei oder dem Canton Graubünden. Ein lustiges Feuer prasselte im Kamine und verbreitete behagliche Wärme, der purpurne Veltliner Wein löste die Zungen und goß flüssige Gluth in die Adern der Tischgenossen. Der Schirrmeister machte aber bald dem geselligen Leben ein Ende, indem er die Splügenreisenden abberief. Der Eilwagen stand fertig gepackt und bespannt vor der Thür; der Schwager thront auf seinem hohen Sitze, wir steigen ein und – hipp – die Bergfahrt beginnt.

Zwischen dem Dorfe Splügen und dem eigentlichen Berge liegt ein wüstes Trümmer- und Steinfeld, mit gewaltigen Felsblöcken, ein Erinnerungsblatt der Verheerungen, welche die Hochwasser in den dreißiger Jahren wiederholt hier angerichtet hatten. Der mitten durch’s Dorf Splügen fließende Bach hatte Brücken und Häuser weggerissen und einen großen Theil der Straße zerstört. Beim Zurückgehen in sein gewohntes Bett ließ er dieses Steingeschiebe als Zeichen seiner Kraft hier zurück.

Die Straße über den Splügen ist eine der bestangelegten und bequemsten Alpenstraßen; die Steigung ist so gering, daß man nie Vorspannpferde braucht, und die Breite so respectabel, daß zwei schwergeladene Frachtwagen sich bequem ausweichen können. Wie alle Alpenstraßen, geht sie in Zickzacklinien, deren man von der Schweizerseite aus sechszehn bis zur Paßhöhe zählt. Wir waren nur wenige Minuten gestiegen, als wir den ersten Schnee begrüßten, der, erst nur als leichter Schaum die Straße bedeckend, rasch an Mächtigkeit zunahm. Die Schlittenpartie, der interessantere Theil der Reise, hatte zu beginnen; wir waren kaum zwanzig Minuten von Splügen entfernt, als wir denn auch an der Seite der Straße eine lange Reihe bespannter Schlitten, jeder mit einem Kutscher, stehen sahen. Die Schneedecke war bereits zu hoch für unseren schweren Wagen; er mußte seine Bemannung und sein Gepäck abgeben und nach Splügen zurück. Das Frachtgut ward sorgfältig auf einen Fourgonschlitten geladen, die Reisenden aber wurden je zwei in einen Schlitten verpackt, und abermals ging es vorwärts.

Diese Postschlitten sind sehr einfach und ihrem Zwecke entsprechend gebaut; die Breite ist nur gerade für zwei Personen hinreichend, vorn befindet sich der Sitz für den Schwager, der aber, nur bei der Thalfahrt benutzt wird. Bei der Bergfahrt geht der Kutscher vor oder hinter dem Fuhrwerk einher, indem er die Zügel einem der Reisenden übergiebt oder einfach vorn an seinem Sitze befestigt. Die Pferde sind so vertraut, daß er die Passagiere getrost ihrer Führung überlassen darf. Der Sitz der Reisenden ist gepolstert, mit einer Rücklehne, die bis an’s Kreuz geht, aber ohne alle Bedachung. Bei Schneegestöber und Regen muß dies für die Fahrenden sehr peinlich sein, die denn auch oft halb erstarrt und mit entzündeter Gesichtshaut am Fuße des Berges ankommen; bei so herrlichem Wetter aber, wie wir es zu unserer Bergfahrt hatten, ist dagegen der freie Rundblick, den diese offenen Schlitten gewähren, von großer Annehmlichkeit. Die Füße der Reisenden sind mit einer Lederdecke geschützt; die Post hat aber auch außerdem väterlich für das Behagen gesorgt, indem nicht nur auf dem Fußbrett reichlich Stroh aufgeschüttet ist, sondern auch Teppiche, Wolldecken und Wildschuren im Ueberfluß vorhanden sind, in welche jeder Reisende, gleich einem Wickelkind, bis an die Arme hinauf eingehüllt wird. Jeder Schlitten ist mit einem Pferde bespannt und die einzelnen Fuhrwerke folgen sich in einer geschlossenen Reihe. Ich hatte neben mir als Schlittennachbar einen jungen Graubündner. Kaum den Knabenjahren entwachsen, hatte er doch schon unter Garibaldi den Feldzug nach Sicilien und Neapel als Officier mitgemacht, sich mit den Oesterreichern herumgeschlagen und schien wieder aus militärischen Zwecken die Alpen zu übersteigen.

So sanft auch die Steigung, der Straße über den Splügen ist, so geht doch die Reise bei dem beschwerlichen Weg im weichen Schnee nur sehr langsam fort. Bei jedem Schritte sinkt das Pferd ein und macht sich durch einen Ruck frei, der sich auf unangenehme Weise bis in den Schlitten fortpflanzt und jene eigenthümliche Erschütterung bewirkt, die man auf dem Kameele bei einem Ritt durch die Wüste empfindet. Aber das Schauspiel, das sich uns darbietet, ist so großartig, so eigenthümlich, daß man beim Anfang der Reise die langsame Beförderung fast vergißt. Ein Blick rückwärts zeigt uns eine lange Reihe von Schlitten in malerischem Zuge und das Zickzack der Straße, die sich gegen Splügen verliert. Vor uns thürmen sich Felswände, imposante Berghöhen, Wellenlinien in allen Formen, Alles mit tiefem Schnee bedeckt. Nur einzelne verkrüppelte Nadelbäume biegen sich unter der weißen Belastung, um noch weiter oben ganz zu verschwinden. Die Schneedecke, welche im Anfange die Straße nur ein paar Zoll hoch bedeckte, nahm rasch an Mächtigkeit zu, je weiter wir hinauf kamen, um nach einer Fahrt von etwa einer Stunde die Höhe von zehn bis zwölf Fuß zu erreichen. In diese Schneemasse hinein hatten die Arbeiter eine Art von Stollen gegraben, eine tiefe Rinne, in welcher sich die Schlitten fortbewegen, zu beiden Seiten von einer imposanten Schneemauer überragt. Die Sonne schien mit aller Macht einer jungfräulichen Maisonne, die Schnee- und Eisnadeln flimmerten in ihrem Scheine wie Millionen Krystall und alle Farbentöne des Prisma funkelten uns entgegen, wo die Strahlen senkrecht herunterfielen. Ich hatte gleich am Anfange der Fahrt einen grünen Schleier vorgebunden, um der Schneeblindheit zu entgehen, aber das feine Gewebe war eine ungenügende Blendung gegen diese Fluth des grellsten weißen Lichtes, das von allen Seiten mir entgegendrang. Zuerst stellte sich ein Thränen der Augen, dann eine krampfhafte Lichtscheu und endlich ein so furchtbarer bohrender Schmerz in der Tiefe der Augenhöhlen ein, daß ich ernstlich für meine Augen besorgt wurde. Selbst das feste Schließen der Lider brachte nur wenig Erleichterung, ich glaubte

  1. Also nahezu eintausend Fuß höher als der Gipfel des Brocken.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_326.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)