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sich stets verdichtenden Zuhörerknäuels. Die im amerikanischen Congresse im Vergleich mit europäischen repräsentativen Versammlungen etwas weit gestreckten Grenzen des parlamentarisch Zulässigen wurden von keinem Republikaner, und nur von einem Demokraten, der aber sofort das Wort zurücknahm, überschritten. Das Verfahren des Präsidenten in der letzten Zeit, sowie sein ganzes Benehmen seit dem unglücklichen 14. April 1865 worden einer rücksichtslosen Auseinandersetzung und schonungslosen Kritik unterzogen, allein trotz der persönlichen Beleidigungen, welche der Präsident auf den Congreß als Ganzes und auf einzelne bedeutende Mitglieder desselben gehäuft hatte, trat doch sehr selten persönliche Malice, umso mehr aber gekränkter Mannesstolz, verletzter Patriotismus, Sorge um das Gemeinwohl, innige Sympathie für das Loos der Farbigen und fester energischer Entschluß, auch das Aeußerste zu wagen, in den Reden der Republikaner hervor. Der Richter Kelley von Pennsylvanien namentlich, als er eine lebhafte Parallele zwischen der momentanen Lage und der Nacht vom 1. auf den 2. December 1851 zog und das Conclave der fünf bekannten Verschwornen im Elysée mit ergreifenden Worten schilderte, als er seine mächtige Stimme bis zum tiefsten Flüsterton herabstimmte bei den Worten: „finis reipublicae“, als kämen sie aus dem verzagten Munde des Hauptes jener Verschworenen, und als er auf Johnson’s Ehrgeiz und seine Reise nach Washington zur Inauguration kommend sagte: „Vor Gott und der Nation versichere ich freilich: ich glaube, daß Johnson’s Absicht war, die Regierung umzustürzen und den Plan auszuführen, den er vor seiner Abreise von Tennessee angedeutet hatte, nämlich: daß der Präsident werden und, wenn er es zur Rettung der Nation für nöthig hielte, seine Gewalt verewigen wolle. Besessen von dem Gedanken der Präsidentschaft und ihrer Dauer in seiner Person stand zwischen ihm, dem erwählten Vicepräsidenten, und seinen egoistischen Wunsche – nur ein Leben, das von Abraham Lincoln, und das Leben beseitigte ein Meuchelmörder nur wenige Tage nach Johnson’s Inauguration zu seinem constitutionellen Nachfolger“ – rief einen ungeheuren Eindruck hervor.

Zu der angegebenen Stunde wurde die Sitzung auf Montag Morgen zehn Uhr ausgesetzt.

Der Sonntag brach an, aber es war kein langweiliger amerikanischer Kirchhofsabbath, an dem die Leute zu Ehren Gottes sich zu einem Mumienleben, nur unterbrochen vom zischenden Tone der unter der Nase fast jedes Amerikaners angebrachten Tabaksgiftjauchspritze, verdammen und jeden als einen Ungläubigen verurtheilen, der Mensch bleibt – nein, es war ein Kriegssonntag. Unter dem wilden Bergstrome überwältigender Leidenschaften und alles umfassende Interessen war der mechanische Lauf des religiösen Lebens kaum bemerkbar. Gerüchte der aufregendsten und wildesten Art wirbelten um die Bundeshauptstadt. Von früh Morgens blitzten telegrafische Depeschen, Anfragen, Glückwünsche, Beschwörungen zum Feststehen und Versprechungen bewaffneten Zuzugs bringend, von Minute zu Minute über alle Linien.

Die radicalen Mitglieder des Hauses und des Senates suchten sich während des Tages und spät in der Nacht auf, um Ansichten auszutauschen und sich über Schritte zu verständigen. Es war das Vorspiel zu einer Schlacht und die Vorbereitung zum Kampfe auf Leben und Tod. Gegen Abend gewann das Gerücht Konsistenz, daß der Präsident, in Verbindung mit den Rebellen von Maryland, ein bewaffnetes Corps nach Washington bringen würde, um ihn in seinen Usurpationen zu unterstützen, und daß die irländischen Demokraten in New-York sich organisirt hätten, um am nächsten Tag auf die leisesten Fingerbewegung eines Congreßmannes in Washington hin New-York den Flammen zu übergeben, das dortige Unterschatzamt (dasselbe ist im Besitze fast aller baaren Mittel der Regierung und hat nicht einmal einen Wachtposten) zu plündern und sein Geld und seine Werthpapiere unter die edlen Söhne "Grün Erins" zu vertheilen. Die Verführungsversuche des Präsidenten bei General Emory und Oberst Wallace wurden bekannt und wirkten wie Oel in's Feuer gegossen. Allein andererseits traf ein Telegramm von dem patriotischen, tapferen General und Gouverneur von Pennsylvanien, Geary, ein, in welchem die Miliz dieses zweitmächtigsten Staates der Union zur Verfügung des Congresses gestellt wurde; ein anderes vom Commandeur der Grand Army of the Republic (einer nach dem Frieden gestifteten geheimen Gesellschaft alter Unionssoldaten im Kriege), der dem Congresse hunderttausend Veteranen jeden Augenblick zur Verfügung stellte, und zuletzt das Anerbieten von viertausend Negersoldaten innerhalb des Districtes, welche versicherten, binnen zehn Stunden schlagfertig zur Seite des Congresses zu stehen.

Es war erheiternd, wahrzunehmen, wie die in der Bundeshauptstadt zu einer gemeinschaftlichen Berathung anwesenden Leiter der Demokratie sich von dem Präsidenten als einem „todten Mann“ instinctiv zurückgezogen, wie sie seine Thorheit und seinen Eigenwillen verdammten, kraft deren er sich nicht um Rath gefragt, – wie sie für alles Unheil verantwortlich machten, das ihrer Partei nothwendig aus des Präsidentenschritten erwachsen müsse. Johnson gab den anwesenden Demokraten ein Bankett im Weißen Hause und ihrem Führer, dem jüdischen Bankier (einem geborenen Deutschen) Belmont aus New-York, dem Agenten der Rothschilds, den Ehrensitz zu seiner Rechten; als er aber von der momentanen Lage mit ihm zu sprechen anfing, schnitt Belmont den Gegenstand mit der kurzen Bemerkung ab: „Jetzt wollen wir essen, nachher von Politik reden.“ Allein der wie seine Gefährten waren klug genug, zu sorgen, daß auch nachher nicht von den Tagesereignissen gesprochen wurde. Nicht öffentlich zischten, bissen und krümmten sich die Kupferköpfe (Copperheads)[1], sie steckten in ihren Löchern und reizten sich gegenseitig mit ihrem Gift. Der Strom der öffentlichen Meinung zu Gunsten der Anklage, dem Anscheine nach voll bis zum Uebertreten der Ufer, nahm während des Tages sichtbar an Tiefe und reißender Gewalt zu, und es wurde dem aufmerksamen Beobachter klar, daß kein Mitglied der republikanischen Partei in einem der Häuser des Congreßes den Willen oder die Kraft besitzen würde[WS 1], sich ihm entgegenzustemmen. Die Mehrzahl der Bevölkerung legte sich nieder, befreit von Zweifel und Fragen, und bereits vertraut mit dem Gedanken eines Administrationswechsels in gesetzlichen Wege einer gerichtlichen Verhandlung, und bedachte, einschlafend, den Geist und die Folgen einer zwölfmonatlichen Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten unter dem ehrlichen, braven, radicalen und weisen „Ben Wade“.

Es ist Montag, früh zehn Uhr, Galerien und Corridore sind gepfropft voll, Barrieren sind quer über letztern angebracht, um die Massen von Frauen und Männern zurückzuhalten, von denen die Ersteren besonders am Sonnabend alle Räume überfluthet, sich in den Sitzungssaal selbst ergossen, alle leeren Sitze der Volksvertreter eingenommen hatten und zuletzt, da kein Herr, nach amerikanischer Sitte, sitzen darf, wo eine Dame steht, auch die ihnen von den Repräsentanten angebotenen Sitz der Einnahmen, so daß mindestens zwei Drittel der Sitze von dem schönen Geschlecht occupiert wurden, während die Repräsentanten standen oder herum gingen. Die Regeln über die Eintrittsberechtigung zum Flur des Hauses wurden auf besonderen Befehl des Sprechers von den Thürstehern, unterstützt von einem starken Detachment eigens herbeigezogener Stadtpolizei, strict, aber mit unwiderstehlicher Höflichkeit gehandhabt, und es gelang mir nur durch energische Verwendung eines bedeutenden Congreßmitgliedes und nach einstündigem Warten, Eintritt zu erhalten. Die Geduld, Ausdauer und das stille Fügen der Amerikaner männlichen und weiblichen Geschlechts bei solchen Gelegenheiten sind im Vergleiche mit Europa höchst überraschend und gewiß jedem Fremden, der auf Eisenbahnen und Dampfbooten gereist ist und zahlreichen öffentlichen Versammlungen beigewohnt hat, aufgefallen. Ich finde den psychologischen Grund davon in der jedem Bewohner der Republik innewohnenden Ueberzeugung, daß er selbst seinen Antheil am Zustandekommen des Gesetzes oder der Regel hat, daß es ohne Unterschied gegen Jeden gehandhabt wird und daß es unentbehrlich ist. Aber welches Mitglied der weit zerstreuten amerikanischen Völkerfamilie wollte nicht zu hören, wie, zum ersten Male in der Geschichte seines Landes, der Präsident angeklagt wird? Die große Menge von Farbigen, welche in die Hallen strömen und auf den Galerien stehen, ist ebenso auffallend wie bedeutungsvoll, sie fühlen es, daß über Leben und Tod ihrer Race in zehn Staaten der Union verhandelt wird.

Die Debatte ist bei meinem Eintritte in vollem Gange; mit dem ganzen sich selbst vergessenden Eifer amerikanisch-politischer Discussionen geführt, erhebt sie sich im Munde begeisterter Freiheitsfreunde zum höchsten Pathos, um in den Händen der Menschenhändler zum Ausdruck des niedrigsten Egoismus herababzusinken.


  1. Seit der Secession wird dieser von der äußerst gefährlichen Kupferschlange hergenommener Name auf diejenigen Amerikaner im Norden angewendet, welche mit der Secession sympathisierten und alles Mögliche zu deren Sieg beizutragen sich bemühten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: würden
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_232.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)