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stellen und die wir theilweise als Hemmungsbildungen, teilweise als Ahnenbildungen (Atavismen, von Atavus, der Ahn oder Aeltervater) bezeichnen. Beide Erscheinungen sind im Princip gleich, nur weisen uns die letzteren mehr auf nähere Charaktere zurück, die wir bei den Vorfahren in ausgebildetem Zustande auftreten sehen, während die Hemmungsbildungen durch Stehenbleiben eines Organs aus einer gewissen Entwickelungsphase uns nur diese repräsentiren. Erlauben Sie mir eine Erklärung. Wenn Menschen mit Hasenscharten, Wolfsrachen und ähnlichen Mißbildungen geboren werden, so werden wir dies eher eine Hemmungsbildung nennen, weil das Organ auf einer sehr früh von dem werdenden Individuum durchlaufenen Bildungsstufe stehen geblieben ist, welche, so weit wir bis jetzt wissen, von keinem ausgewachsenen normalen Typus dargestellt wurde. Wenn dagegen ein Pferdefüllen mit Streifen an den Füßen, wie ein Zebra, oder mit dreizehigen Füßen statt einer einzigen Mittelzehe geworfen wird, so nennen wir dies eher eine Ahnenbildung, einen Atavismus, weil wir mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit annehmen können, daß der Stammtypus der Pferde ähnlich gestreift war, wie die jetzigen wilden Pferde Afrikas, und weil ein Vorgänger des Pferdes der jetzigen Schöpfung, der in der jüngeren Tertiärzeit lebte und von den Versteinerungsforschern Hipparion genannt wurde, solche dreizehige Fuße besaß.

Das jetzige Pferdefüllen besitzt im Mutterleibe während einer früheren Periode in den stummelartigen Anlagen seiner Glieder ebenfalls Andeutungen von, nicht nur drei, sondern sogar fünf Zehen – dieselben schwinden aber wieder und zwar in der Weise, daß zuerst die äußeren, dann die beiden nächsten Zehen sich nicht entwickeln und nur die Mittelzehe sich ausbildet. Wenn statt dessen, wie es zuweilen vorkommt, auch zwei Seitenzehen sich ausbilden, die dann meistens, wie die sogenannten Afterklauen des Schweines, in einiger Höhe über dem Boden schweben, so daß das ausgewachsene Thier doch nur mit der Mittelzehe auftritt, so ist diese Bildung zugleich Hemmungsbildung – denn der Schwindungsproceß der beiden seitlichen Zehen wurde gehemmt – und zugleich Ahnenbildung, denn die ursprünglich nur in der Anlage vorhandenen und erst später weiter entwickelten Zehen, die Knochen, Bänder, Sehnen etc. haben, stellen die Füße des geologischen Ahnen vor, der in der Erdgeschichte dem Pferde vorausging.“

„Fiat applicatio – Nutzanwendung folge,“ sagte der Doctor, indem er eine Prise nahm.

„Sie haben Recht, Doctor,“ bestätigte ich; „die Nutzanwendung folgt gleich. Alle Anatomen sind jetzt, nach den genauesten Untersuchungen, darin einig, daß das Gehirn der Affen und der Menschen nach demselben Grundplane gebaut ist, gemeinsam selbst die feinsten Einzelheiten der Organtheile besitzt – daß beide nur durch die Ausarbeitung und die Proportion der einzelnen Theile, sowie durch die Massenentwickelung sich unterscheiden. Das Gehirn des menschenähnlichen Affen, selbst des Gorilla, dessen Körper doch wohl denjenigen des Menschen an Größe und Gewicht übertrifft, ist dennoch um zwei Dritttheile kleiner, als das Gehirn des Menschen, und diese Reduction betrifft wesentlich das sogenannte Großhirn, daß heißt diejenigen Theile, welche in der engsten Beziehung zu den geistigen Fähigkeiten stehen. Diese Ueberlegenheit des Menschengehirns ist zwar schon zum Theile vor der Geburt gegeben, denn das Kind kommt mit einem Gehirngewicht auf die Welt, welches dasjenige des neugeborenen Affen gewiß übertrifft, aber demjenigen des erwachsenen menschenähnlichen Affen nachsteht, freilich nicht in sehr hohem Grade; die Ueberlegenheit bildet sich aber wesentlich erst nach der Geburt und vorzugsweise im ersten Lebensjahre aus. Das Volumen des Gehirnes des neugeborenen Menschenkindes verhält sich zu demjenigen des erwachsenen menschenähnlichen Affen wie 4 zu 5; das des erwachsenen Menschen zu demjenigen des erwachsenen Affen wie 15 zu 5. Der Mensch erhält also sein Gehirnübergewicht hauptsächlich erst durch Wachsthum nach der Geburt, und dieser Umstand allein beweist schon, daß dieses Uebergewicht auch in der Geschichte der Gattung erst verhältnißmäßig spät erworben worden sei.

Nun stellen Sie sich ein Wesen vor, welches weder Mensch, noch Affe in des Wortes ganzer Bedeutung ist, dessen Gehirn nach dem allgemeinen Grundplane beider angelegt ist, das aber noch nach beiden Züchtungen hin sich entwickeln kann. Eine solche Bildung, welche eine Entwicklung nach beiden Richtungen hin gestaltet, besitzt das Gehirn der menschlichen Leibesfrucht in einer frühen Zeit. Die Gehirne aller Menschen ohne Ausnahme sind durch einen solchen Bildungspunkt hindurch gegangen. Stellen Sie sich vor, daß in diesem Zeitpunkte durch irgend einen Einfluß, den wir noch nicht weiter zu enträthseln vermögen, eine Bildungshemmung eintritt und ein Proceß sich entwickelt, ähnlich wie bei dem Füllen, welches dreizehige Füße zur Welt bringen wird. Das in seiner menschlichen Ausbildung gehemmte Gehirn wächst; – aber dieses Wachsthum schreitet nicht fort in der normalen Richtung, sondern es bleibt auf niederer Bildungsstufe theilweise stehen, theilweise folgt es der Richtung, welche der niederen Stufe angehört – es entwickelt sich in der Richtung des Affentypus. Das große Gehirn, besonders die Stirnlappen, die mit dem höheren Denken in engster Beziehung zu stehen scheinen, sowie diejenigen Theile der Stirnlappen, welche den neuesten chirurgischen Beobachtungen zufolge der Sitz der articulirten Sprache sind, bilden sich nach dem Gesetze der Affenentwickelung, nicht nach dem menschlichen Gesetze aus, wachsen auch nach der Geburt dem Affentypus nach, und die umgebenden Theile, die knöchernen Gehirnkapseln, modeln sich ebenfalls nach diesem Gesetze. Deshalb sehen wir auch bei Mikrocephalen, die ein mannbares Alter erreichen, dieselben Leisten und Kämme des Schädels sich ausbilden, welche bei dem alternden Affen sich entwickeln – kurz alle jene Zustände hervortreten, welche ich Ihnen vorher als charakteristisch für diese Mißbildungen darstellte.“

„Sie nehmen demnach an, daß diese Mißbildungen zugleich Hemmungsbildungen und Ahnenbildungen sind?“ sagte der Doctor.

„Gewiß,“ antwortete ich. „Sie führen uns hinsichtlich des Gehirns bis zu dem Punkte zurück, von welchem aus die beiden Zweige eines gemeinschaftlichen Stammes, Affe und Mensch, sich nach verschiedenen Richtungen hin entwickelt und mehr und mehr von einander entfernt haben, führen Sie sich einmal in Ihrer Vorstellung junge Affen und Kinder, alte Affen und erwachsene Menschen vor. Die Jungen sehen sich ähnlicher als die Alten – der Schädel eines jungen Affen ist demjenigen eines Kindes weit ähnlicher, als der Schädel eines erwachsenen Affen demjenigen eines Mannes. Im Wachsen entfernen sich die beiden Typen. Setzen Sie die auseinanderweichenden Linien, welche das beiderseitige Wachsthum darstellt, nach rückwärts fort, so werden sich dieselben in einem Punkte schneiden, und dieser ist, für das Gehirn, der Zeitpunkt, wo eine Bildungshemmung das Organ in die falsche Richtung hinüberleitet. Die letzte Schlußfolgerung aus diesen Prämissen ergiebt sich von selbst. Der Ursprung des Menschen kann nicht in einem jetzt lebenden Affen gesucht werden – die Affenmenschen führen uns zu einem Stamme, zu einem Ahnentypus zurück, der in früheren geologischen Perioden gesucht werden muß und von welchem aus die Typen sich spalteten. Aber so wie die menschenähnlichen großen Affen, Orang, Chimpanse und Gorilla, von verschiedenen Seiten her dem Menschen sich nähern – der erstere durch sein Gehirn, der zweite durch Schädel und Zähne, der dritte durch seine Gliedmaßen, und keiner von ihnen dem Menschen unbedingt näher steht als der andere, so zeigen sich auch bei den verschiedenen Menschenracen verschiedene Charaktere, wodurch dieselben ihren Ursprung und dadurch auch die Verwandtschaft mit dem Affen bekunden. Das haben die vortrefflichen, mit ebensoviel Umsicht wie Mühe ausgeführten Messungen der Herren Scherzer und Schwarz an Bord der Rovara, die neulich von Dr. Weißbach in Wien bearbeitet worden sind, deutlich nachgewiesen. Selbst die am höchsten stehenden Racen, die durch Maß und Ausbildung des Gehirnes über allen anderen stehen, sind noch, wie sich die Verfasser ausdrücken, mit solchen Erbstücken versehen, welche auf den gemeinschaftlichen Stammvater hinweisen.“

„Ich bescheide mich als Laie,“ sagte der Pater Rector, „und maße mir kein Urtheil über die von der Wissenschaft gewonnenen Resultate an, die schließlich doch meiner festen Ueberzeugung nach, mit dem zusammenstimmen werden, was uns Religion und Kirche lehren. Aber ein seltsames Geschöpf ist der Emil doch, und ich bin fest überzeugt, der Vogt würde viel darum geben, wenn er ihn haben könnte, um ihn den Aachenern in Person vorzustellen. Die würden Augen machen!“

„Das ließe sich vielleicht noch einrichten!“ antwortete ich, mit Mühe mein Lachen unterdrückend. „Wir könnten ja den Vogt, der noch in verschiedenen Städten hier am Rhein seine Vorlesungen hält, benachrichtigen, und ich bin überzeugt, er würde mit Vergnügen die Gelegenheit ergreifen. Würden Sie ihm den Emil

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