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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

gehobene Locomotive mit fünf stark beschädigten Wagen und erinnerte an den schlechten Weg, den wir erst zur Hälfte hinter uns hatten. Indeß gelangten wir mit unserem schweren Zug im schnellen Tempo glücklich über das im Winterschlafe liegende Gebirge hinweg und nach Eger, hatten aber die Erfahrung gemacht, daß, wenn kein Umschlag der Witterung stattfände, wir auf der Rückfahrt kein leichtes Spiel haben würden.

Leider bestätigte der Telegraph nur zu bald unsere Befürchtungen durch die Mittheilung, daß auf’s Neue zwischen den etwa eine Meile von einander entfernten beiden Städtchen Auerbach und Falkenstein Züge im Schnee stecken geblieben seien. Dies trieb zur Eile. An den waldigen Höhen Sachsens windet sich die Bahn in weitem, ununterbrochenem Bogen hinauf und führt in künstlichen, aber höchst malerischen, von graugranitnen Mauern eingefaßten Pässen durch das Urgestein der Felsenmassen, welche die Bergrücken ausmachen. Ein unerbittlich kalter Wind kam uns aus diesen Felsengassen schneidend entgegen und brüllte zuletzt als wilder Sturm aus den links und rechts im Abendschatten liegenden Waldschluchten, so daß das Knacken und Prasseln zu Boden geworfener Bäume in kurzen Pausen schaurig an’s Ohr schlug. Nur Schritt vor Schritt kämpften wir uns auf der bedeutenden Steigung die schlüpfrige Bahn hinauf zu dem zu erstrebenden Brechpunkt, wo ein heftiger Fall uns dann von selbst von der steilen Höhe hinabgleiten läßt und der Locomotivführer seine ganze Geschicklichkeit und Besonnenheit aufbieten muß, um den fortgesetzten wachsenden Druck des ihn gewaltig schiebenden Zuges auszugleichen.

Ein dichter, feuchtkalter Nebel verwandelte den sinkenden Tag in eine mißfarbene Nacht, die der spähende Blick des Auges umsonst zu durchdringen versuchte. Doch das Glück war noch mit uns; trotz Sturm und Nebel kämpften wir uns auch durch die auf den Weg getriebenen Schneemassen und erreichten, wenn auch aufs Höchste erschöpft, Station Falkenstein, wo wir zum Bleiben genöthigt wurden, weil die im Schnee festgefahrenen Züge noch nicht wieder flott zu bringen gewesen waren und die Strecke nur eingleisig ist. Unterdessen war es wirkliche Nacht geworden, die siebente Abendstunde rückte heran, und der am Perron haltende kleine Personenzug nach Eger, mit zwei starken Locomotiven bespannt, um die sich immer mehr steigernden Schwierigkeiten auf der bedrohten Bahn gut zu überwinden, gab eben das Signal zur Abfahrt, als plötzlich wie mit Donnerschlag ein solches Höllenwetter losbrach, daß man meinte, der Engel der Zerstörung wolle den jüngsten Tag verkünden. Wie rasch auf einander folgende Salven aus schweren Geschützen, schlug es donnernd durch die Lüfte und schleuderte kubikfußgroße, festgefrorene Schneestücke empor; der bisherige Sturm schien uns dagegen ein sanftes Säuseln der Luft. In diesem furchtbaren Wetter huschte der Personenzug wie ein mächtiger Schatten an uns vorüber und flog in die dickste Finsterniß hinaus, die mit einem Male wie eine zweite Nacht herabgefallen war. Aber kaum war das letzte Licht des flüchtigen Zuges verschwunden, dem alle Augen ängstlich nachstarrten, als auch schon seine Hülfssignale wie ersterbende schwache Laute in’s Ohr klangen.

In zwei Minuten hatte ich Befehl, Hülfe zu leisten. Ein Druck der Hand, und hinaus stürmte ich in den grausen Wirrwarr, Schneewand auf Schneewand thürmte sich uns entgegen, um durchrannt und von den Rädern zermalmt zu werden, und bald stand ich keuchend am festgefahrenen Zuge, über den sich unaufhörlich ganze Wogen aufgewühlten Schnees gleich der Meeresbrandung stürzten und wälzten. Die Zugkette des letzten Wagens wurde schnell gefaßt, und mit aller Kraft der starken, auf’s Höchste angespannten Maschine begann ich die hintere Hälfte des Zuges, ein paar kleine Personenwagen mit einigen halb verzweifelten Passagieren, aus dem verderblichen weißen Leichentuche hervorzuziehen und nach dem Bahnhof zurückzuschaffen. Glücklich gelang es, und ein zweites Mal ging es hinaus, um die zurückgebliebenen Wagen und Maschinen zu holen. Wieder wurden die weißen Mauern durch den Stoß des Riesenpferdes zerstört, und wieder näherte ich mich dem fast im Schnee verschwundenen Zuge, als ein Ruck, ein darauf folgender erschütternder Stoß und dann ein verdächtiges Wirbeln der Räder um sich selbst mich belehrten, daß der Tender entgleist, aus den Schienen geworfen und ich nun selbst ein der Hülfe bedürftiger Mensch geworden war. Diese suchend tappte ich an den Wagen hin, an welchen sich die Zugmannschaft beharrlich gegen die Gefahr stemmte und das Leben mehrfach auf’s Spiel setzte, um den Zug mit den beiden Maschinen nicht zu verlassen. Die dem Sturm entgegengesetzte Seite desselben war noch einigermaßen gangbar. Ich fand hier bereite Arme, und es wurde sofort versucht den entgleisten Tender wieder auf die Schienen zu winden, aber der heftige Anprall des Schneesturms vernichtete diesen Versuch im Keime. Wer sich nicht an den Laufbrettern der Wagen oder an sonstigen festen Gegenständen anklammerte, wurde sofort zu Boden geworfen und im Schnee begraben, der sich ringsumher haushoch aufthürmte. Ein gegenseitiges Verständniß war unmöglich geworden. Das Tosen der Elemente übertönte die menschliche Stimme und ein ununterbrochener feiner Regen nadelspitzer Eiskrystalle schlug schmerzend in’s Gesicht und erlaubte nur selten die Augen zu öffnen.

Schiffbrüchigen ähnlich, die in dem schwankenden Boote ihre einzige Rettung erblicken, erkletterten wir, vom Froste geschüttelt, den im Zuge befindlichen Postwagen, unsere Hoffnung, und schürten aufs Neue das Feuer des darin befindlichen kleinen Ofens, der auch bald eine wohlthuende Wärme spendete, welche nicht blos die am Körper festgefrorenen Kleider, sondern auch unsere menschlichen Gefühle wieder aufthauen ließ, die sich vor Allem in einem seit Mittag ungestillten Hunger bemerkbar machten. Diesem gesellte sich aber auch bald ein weit heftigerer Durst zu, den wir vergebens durch zerlassenen Schnee zu stillen suchten. Todtmüde streckten wir uns endlich auf den Boden, der nur für die Hälfte der Leute ausreichte, indeß die losgelassenen Elemente noch mit aller Wuth tobten und uns mit Dank empfinden ließen, daß wir dies schützende Asyl erlangt hatten. Doch bald schickte die mit Hochgenuß empfundene Wärme ein neues Ungemach herab, indem sie den über und an den Wänden des Wagens liegenden Schnee zum Schmelzen brachte und das Schneewasser sich in Folge dessen mit aller Macht durch die Ritzen und Oeffnungen drängte und unser Lager völlig überschwemmte.

Rathlos sahen wir uns an. Da entschlossen sich mehrere der Rüstigsten, das Unmöglichscheinende zu wagen, um eine nur ein paar hundert Schritt entfernt liegende Schäferei zu erreichen, obwohl es eine traurige Gewißheit war, daß, wenn sie den Weg dahin verfehlten, der feindliche Schnee ihr Grab sein würde. Wir versuchten unterdessen, so lange als irgend möglich, das Feuer der Maschinen zu unterhalten, wenigstens bei zweien, die dritte war vollständig verweht und uns einen Weg zu ihr zu bahnen, wollte unsern wenigen Kräften nicht gelingen. Unsere Hoffnung beruhte in dem Gedanken, wenn mit dem anbrechenden Tag auch die Schneearbeiter eintrafen, durch die Feuerkraft unserer Rosse selbstthätig in unser Geschick eingreifen zu können.

Bis dahin war es aber noch lange Zeit, denn die zehnte Stunde war erst vorüber und der ungestillte Hunger und der durch das Schneewasser auf’s Höchste gesteigerte Durst vergrößerten das Maß der Leiden. Auf dem Bahnhofe zu Falkenstein war mittlerweile Alles aufgeboten worden, uns Hülfe zu senden, allein Niemand wagte sich in die Schreckensnacht hinaus und die Arbeiter, welche einen Pfad auswerfen sollten, hatten sich davon gemacht. Schließlich war es jedoch dem braven Stationsvorstand gelungen, noch drei muthige Samariter zu gewinnen, mit welchen er sich auf den Weg machte, um sich über unser Schicksal Gewißheit zu verschaffen. Nach mehrstündigen fürchterlichen Anstrengungen, häufig im Schnee untersinkend, ermöglichten sie es, den nur zehn Minuten langen Weg zurückzulegen und zu uns zu gelangen. Mit unaussprechlicher Freude begrüßten wir früh gegen drei Uhr die mit wollnen Decken, Brod und stärkendem Wein bepackten wackern Männer, die uns wie rettende Engel erschienen und die bereits die Hoffnung aufgegeben hatten, uns noch am Leben zu treffen. Wir fühlten uns neu gekräftigt, aber die Zweifel über das Loos der nach der Schäferei Geflüchteten ließen uns keine Ruhe. Wie wir später hörten, waren indeß auch sie, Einer den Andern gefaßt haltend, der Gefahr entronnen, wenn gleich zwei von ihnen durch den Sturm von der über den Einschnitt gespannten zwanzig Fuß hohen Brücke herabgeschleudert wurden. Nur schweren Herzens ließen wir unsere neuen Freunde, denen der Sturm nach dem Bahnhof zu glücklicher Weise in den Rücken kam, wieder umkehren, da man sicher um ihr Schicksal ebenso besorgt geworden war wie um das unsrige. Langsam wich indessen die verhängnißvolle Nacht dem ungeduldig ersehnten Tage, dem 1. Februar, der uns dann und wann einen Blick durch die Schneewolken thun ließ, die uns wie gespenstische Schwadronen umkreisten. Aber was

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