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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Anton Rubinstein.

Moskau. Das Aufsehen, welches der Wunderknabe bei dieser Gelegenheit erregte, war ungeheuer, und von allen Seiten angegangen, ließen ihn die Eltern in Begleitung seines Lehrers Villoing im August 1839 eine Reise nach Paris antreten. Obwohl aber das zehnjährige Kind auch in dieser Weltstadt große Sensation erregte, so war der bedächtige Vater doch noch unschlüssig, ob er den Sohn gänzlich der musikalischen Laufbahn widmen sollte, wohl erkennend, daß nur das ungewöhnliche Talent auf dem so ungeheuer gesteigerten Gebiete der Tonkunst sich bemerkbar machen könne. Da war Liszt beim zweiten Concerte Rubinstein’s im Herz’schen Saale anwesend. Das Spiel des genialen Jungen enthusiasmirte ihn dermaßen, daß er nach beendetem Vortrag den Knaben zu sich erhob und küßte, ausrufend: „Der wird der Erbe meines Spiels!“ Die Versammlung brach in ungeheuren Jubel aus, und acht Tage sprach Paris von nichts als dieser Scene. Anderthalb Jahr wurden nun daselbst die eifrigsten Studien getrieben, wozu Liszt selbst beiräthig war. Darauf wurde die erste große Kunstreise durch England, Holland, Schweden und Deutschland unternommen, die Ruhm und pecuniären Gewinn einbrachte. Alsdann, in die Heimath zurückgekehrt, brachte Anton ein Jahr im elterlichen Hause zu. Im Jahr 1844 kamen die Söhne in Begleitung der Mutter, da der kränkliche Vater zurückbleiben mußte, nach Berlin, um bei Dehn ihre theoretisch-musikalischen und an der Hochschule ihre wissenschaftlichen Studien zu vollenden.

Nicolaus, der ältere Bruder, widmete sich später dem Unterrichtsfache und leitet jetzt in Moskau das Conservatorium und die Concerte desselben. Anton entwickelte sich im Laufe seiner nahe zweijährigen Studien bei Dehn immer entschiedener und warf sich mit aller Begeisterung auf das Studium der Meisterwerke und der Composition. Höchst wohlthätig auf ihn wirkte die Bekanntschaft mit Mendelssohn-Bartholdy, der dem fünfzehnjährigen Jüngling warme Sympathie zeigte. Inmitten dieser künstlerisch bewegten Zeit starb Anton’s Vater. Die Mutter mußte ihrer übrigen Kinder wegen nach Moskau zurück. Anton sah sich so ihrer ferneren Unterstützung beraubt und auf seine eigene Kraft angewiesen. Er wandte sich 1845 nach Wien, wo er sich mit Unterrichtgeben ziemlich kümmerlich durchbrachte, doch alle seine freie Zeit der Composition widmete. Hier und dann in Ungarn, welches er mit dem so unglücklich endenden Flötisten Heindl[1] bereiste, entstanden der Mehrzahl nach die Compositionen, zum Theil nur im Entwurf, die später erst, unter ganz anderen Umständen, veröffentlicht wurden. Indessen stellte sich, da seine Wünsche sich nicht schnell genug realisiren wollten, eine trübe, hoffnungslose Stimmung ein, die ihn an die Auswanderung nach Amerika denken ließ. Es war jedoch nur eine hypochondrische Anwandlung, deren er bald Meister wurde. Die Donner von 1848 trieben ihn von Wien hinweg; er ging wieder nach Berlin und bald in seine Heimath zurück.

Von nun an nahm des jungen Künstlers Schicksal eine günstigere Wendung. Er gewann sich durch sein Talent die Huld der Großfürstin Helene von Rußland. Sie nahm ihn in ihren Dienst als Kammervirtuos, zu dem sich später die Stellung eines

  1. Derselbe wurde, an einer Schießhütte vorüberfahrend, von einer abprallenden Kugel getödtet.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_165.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)