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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Sprache, und ich gab meine Bewunderung für den großen Sinn zu erkennen, mit dem die englische Gesetzgebung nicht allein die politische Freiheit der Person und den Schutz des Eigenthums im Allgemeinen gewährleistet, sondern in welchem sie auch speciell die Rechte des verkehrenden und versendenden Publicums den mächtigen und reichen Eisenbahngesellschaften gegenüber vertritt. Die Vergütungen, welche sie die letzteren zwingt, an die Hinterbliebenen beim Eisenbahnbetriebe Getödteter, an Verletzte, an Versender, gegen die sie ihre Verpflichtungen nicht erfüllt haben, zu zahlen, seien meist nicht blos entsprechend, sondern oft fast großmüthig bemessen.

„Und doch rühmt man den deutschen Eisenbahnen,“ warf mir Stephenson ein, „größere Sicherheit der Person und des Eigenthums, gefügigeres Anschmiegen an die Localbedürfnisse und gemüthlichere Vorsorglichkeit für die Behaglichkeit des Publicums nach. Auch Ihre Wagen sind besser, weiter, luftiger, selbst in den unteren Classen den Passagieren mehr Behaglichkeit gewährend, die Einrichtungen zur Verpflegung des Publicums auf den Stationen comfortabler, das mit den Reisenden verkehrende Personal mehr für das Wohlbehagen derselben besorgt, als in England.“

„Dafür,“ schaltete Wild dazwischen, „ist die Geschwindigkeit der Beförderung in Deutschland weit geringer, der Verkehr viel schwächer, als bei uns.“

„In Allem, was die beiden Herren geäußert haben, ist unzweifelhaft viel Wahres,“ mußte ich erwidern, „aber die Gesichtspunkte sind doch etwas schärfer zu präcisiren, wenn es zu vergleichen gilt, als dies gemeiniglich von der öffentlichen Meinung geschieht. Unzweifelhaft, und dies sei zur Abwehr jeden Vorwurfs unpatriotischer Anschauungsweise vorausgeschickt, sind wohl in Bezug auf ihre Technik und ihre Administration sehr viele deutsche Eisenbahnen die besten in der Welt. Aber die klarer blickenden unter den deutschen Fachmännern verkennen in ihrer Freude hierüber nicht, daß die Grundprincipien, nach denen beide Zweige im Allgemeinen in Deutschland geleitet werden, auch die Keime ernstlicher Krankheiten für das ganze System in sich tragen.

„Wir dürfen stolz darauf sein, daß die fatale Wahrscheinlichkeit, auf den Eisenbahnen zu verunglücken, für jeden Passagier zwanzig Mal geringer ist, als die angenehme Wahrscheinlichkeit für jeden Lotteriespieler, das große Loos zu gewinnen; daß unsere Reisenden ungefähr eine Strecke zurücklegen können, die dem Umfang der Erdbahn gleich ist, ohne daß einer davon getödtet wird, aber wir müssen zu gleicher Zeit kleinmüthig zugeben, daß zum großen Theil die Form unserer Betriebsführung und unserer Stationsconstruction es ist, die jährlich das Opfer von dritthalbhundert Menschenleben unter den Beamten und Arbeitern der Eisenbahn fordert und deren über dreihundert beschädigen läßt, so daß der Verlust an Menschenleben und Gesundheit auf deutschen Bahnen, auf die gleichen Verkehrsmassen berechnet, nicht zu sehr zum Nachtheil der englischen mit diesen contrastirt. Man könnte sich darüber trösten, daß von diesen Verlusten, die so ziemlich denen der preußischen Armee in Schleswig-Holstein gleichkommen, im Publicum so gut wie nichts bekannt und das öffentliche Mitleid nicht für sie in Anspruch genommen wird, wenn man in den meisten deutschen Ländern den gerechten Ansprüchen zu Schaden gekommener Passagiere oder ihrer Angehörigen und der Versender, den Menschenpflichten gegen Nachgelassene armer Beamten und unglücklicher Krüppel kräftiger als bisher Rechnung tragen wollte.

„Wir müssen noch erröthen, wenn wir lesen, in welchem Umfange Eure Eisenbahnverwaltungen durch Eure Gesetze gehalten sind, dort einem Geistlichen, dem die Hand beim Thürzuschlagen von einem ungeschickten Schaffner zerschmettert und der dadurch im Predigen behindert wurde, ein kleines Vermögen auszuzahlen, dort die Waisen eines Officiers, den ein zu früh anrückender Zug tödtete, zu pensioniren; hier eine Dame, deren schönes Haar durch einen Funken aus der Locomotive beschädigt wurde, durch dreißig Pfund Sterling zu trösten, dort endlich ein verbranntes Rennpferd mit zweitausend Pfund Sterling zu bezahlen, während wir in allen diesen Fällen – höchstens die Curkosten für den Verletzten getragen und für das Pferd – nach unseren Bestimmungen – hundertfünfzig Thaler bezahlt haben würden. –

„Wir dürfen stolz auf die Sorgsamkeit, Solidität und den wissenschaftlichen Sinn sein, mit dem unsere Bahnen ausgeführt sind, aber wir können uns den Mangel an uns specifisch eignen Gedanken und Constructionen nicht verhehlen, der dabei herrscht. Wir fühlen mit Behagen die Vorsorglichkeit, mit der von Regierungen und Gesellschaften bei Anlegung der Bahnlinien den verschiedensten Localbedürfnissen in allen kleineren und größeren Ländern Rechnung getragen wird, doch vermissen[WS 1] wir, Dank unserer politischen Zersplitterung, jedes rationelle System in der Disposition der Linien für den Weltverkehr über das ganze Land im Großen, und sehen Bahnen, die ihm dienen sollen, um einiger Dörfer und kleiner Städtchen halber, auf Routen und in Terrains gezwängt, die sie, für diesen Zweck, durch Krümmungen und Steigungen geradehin unbrauchbar machen. Der mit Recht gerühmte Comfort, der dem Publicum durch die Einrichtung der Wagen und für dasselbe bestimmten Bahnhofsräumlichkeiten gewährt wird, zeigt seine Schattenseiten, wenn die unteren Wagenclassen soviel davon bieten, daß die oberen immer weniger benutzt werden und das mehr als zwanzigfache Gewicht der Person an Wagengewicht transportirt werden muß; die Bahnhofsrestaurationen aber zu den frequentesten Vergnügungsorten der Städte werden, so daß der Reisende, für den sie bestimmt sind, oft am allerwenigsten Raum in ihnen findet.

„Die unzweifelhaft vortreffliche fachliche Ausbildung der zahlreichen Techniker, die jährlich von unseren Erziehungsanstalten in die Welt gesendet werden, gelangt bei weitem nicht im Verhältniß zu dem Maße der darauf gewandten Vorsorge, im öffentlichen Leben zur praktischen Ausnutzung, so lange der maßgebende Entscheid an höchster Stelle bei sehr vielen Eisenbahnverwaltungen in den Händen der Nichtfachleute oder derer ist, die nur beim Befehlen lernten. Dies wird aber so lange der Fall bleiben, als der deutsche Techniker nicht, wie es hier in England und in Frankreich längst der Fall ist, sich durch allgemeine Bildung auf die ihm gebührende, gesellschaftliche Stellung zu erheben verstehen wird. Wiederum hängt dies aber vom Einflusse der abstracten Doctrin auf unser öffentliches Leben ab.

„Der deutsche Professor, auf der Lehrkanzel und im Studirsaale mit Recht der Stolz der Nation und der Hauptpfeiler deutschen Geisteslebens, hat fast immer eine unglückliche Hand in der Praxis, mag dieselbe nun in der Paulskirche oder bei einer Eisenbahnverwaltung ausgeübt werden. Der Doctrin verdankte das deutsche Eisenbahnwesen auch die Constructionen jener ungeheuerlichen Personen- und Güterwagen, bei denen die Anwendung aller jener mechanischen Hülfsmittel, durch welche in andern Ländern die Betriebsmanipulation auf den Stationen so außerordentlich erleichtert und concentrirt wird, fast völlig verboten ist. Diese wiederum sind Ursache, daß unsere Stationen jetzt Dimensionen anzunehmen gezwungen werden, die den Betrieb auf ihnen so unübersichtlich, beschwerlich und gefährlich machen und doch nicht vor traurigem Geschäftsbankerotte bei fast jeder etwas ungewöhnlichen Steigerung des Verkehrs schützen können. Sehr täuschen sich hingegen die Herren Ausländer, und selbst so ausgezeichnete Kenner, wie Herr Wild, über die Schnelligkeit der Fahrt auf deutschen Eisenbahnen. Man wird dieselbe weniger gewahr, weil die Bewegung der Wagen sanfter, die Erhaltung der Geleise meist besser als anderwärts ist, aber unsere Schnellzüge zwischen Köln und Berlin, Berlin und Breslau und Königsberg etc. erreichen vollständig die Geschwindigkeit der englischen.“

„Zugegeben,“ rief hier Wild, „allein auf wie vielen Routen bewegen sich so schnell Züge in Deutschland? wie viel solche Züge gehen des Tages? Wie würde es mit Ihrer vielgerühmten Sicherheit stehen, wenn Sie, wie in England, fast auf jeder Bahn vier bis zehn und mehr Schnellzüge täglich, gemischt mit Hunderten von Zügen anderer Gattungen, haben würden? In ungeheurer Proportion steigt ja bekanntlich die Gefahr mit der Zahl und der Verschiedenheit der Geschwindigkeit der Eisenbahnzüge, die sich auf derselben Linie bewegen!“

Hic haeret aqua“ (da liegt der Haken) erwiderte ich lachend, „Sie haben die schwache Seite richtig getroffen! Was dann werden würde, weiß ich zur Zeit nicht. Jedenfalls aber werden wir in Deutschland vorsichtig und geschickt sein.“

„Unzweifelhaft,“ nickte Stephenson verbindlich mit jenem ernsten Lächeln, das seinem strengen Kopf so liebenswürdig zu Gesicht stand, „und es ist alle Hochachtung vor dem Geiste zu hegen, der sich dort allenthalben in jedem Zweige der Technik zeigt – aber ohne Schmeichelei für meinen edlen Nachbar,“ fuhr er fort, indem er mit langem, blankem Messer einen mit Trüffeln farcirten Schweinskopf durchtunnelte, „muß ich gestehen, daß ich von den Amerikanern allein eine neue Aera in unserer Kunst erhoffe.

  1. Vorlage: vermiss n
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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_103.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)