Seite:Die Gartenlaube (1868) 091.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

begab mich von Frau von H. geraden Weges zu – Auguste Satorius, die, höchst unzufrieden mit ihrer „untergeordneten Stellung“ (sie war nebenbei gesagt nirgends zufrieden), in der That nur spärlich mit dankbaren Rollen bedacht, voll wahren Heißhungers auf besagte Katze sich stürzte. Wir wurden einig, daß ich in meinem Begleitschreiben an die Direction diese Partie, dem Autorrechte gemäß, für sie, für Augusten bestimmen sollte. (Das ist denn seiner Zeit geschehen und hat die natürliche Folge gehabt, welche ein lebensklügerer Mensch voraussehen mußte. Man schickte mir das Stück umgehend zurück und erklärte es für unbrauchbar; dasselbe Stück, vom welchem die incognito regierende Donna assolutissima sich mehr denn entzückt gezeigt.)

Im Augenblicke befinde ich mich aber noch in Weimar, stehe noch in vollster Gunst, welche sich soweit erstreckt, daß Madame Jagemann dem „talentvollen Schriftsteller“ ihre Maria Stuart vorzuspielen sich entschließt.

Nicht ohne frommen Schauder habe ich das Programm[WS 1] in der Hand gehalten, worauf die Namen Graff, Heide, Oels – Namen aus glorreicher Schiller-Goethe-Epoche – verzeichnet standen. Madame Jagemann gehörte ja ebenfalls noch dazu. Und nicht minder gehörte zu jenen meinen lieben langen Flegeljahren die aufrichtig-kindliche Pietät, der sich willig fügende Respect für überkommene Autoritäten. Ich hatte mich ernstlich bemüht zu vergessen, was ich vor Jahren in Berlin vernommen über ein Gastspiel der Jagemann auf dem königlichen Hoftheater. Sie war, so hieß es in Berlin, ausgestattet mit den gewichtigsten Empfehlungen, eingetroffen, demgemäß gebührend empfangen, und die Thüren zum Musentempel waren ihr weit geöffnet worden. Zur ersten Auftrittsrolle hatte sie „Preciosa“ erwählt; eine Partie, worin sich, neben der recitirenden Schauspielerin, auch die Sängerin, die Tänzerin zu zeigen Gelegenheit findet. P. A. Wolff schrieb diese Rolle für die in Blüthe der Jugend und Schönheit prangende Stich, und C. M. von Weber nahm bei Composition des Liedes: „Einsam bin ich nicht alleine“ Rücksicht auf deren Stimmlage. Welchen beispiellosen Erfolg die Stich gehabet, konnte in Weimar nicht unbekannt geblieben sein. Doch Madame Jagemann mag wohl das Berliner Publicum nach ihrem Weimarischen gemessen und sich eingebildet haben, vor ersterem eben so zu triumphiren, wie vor letzterem. Das wäre nun ein verzeihlicher Irrthum, weil er ein menschlich-eitler und, was noch mehr sagen will, weil er ein echt-weiblicher gewesen und weil das Schooßkind eines vielgeliebten Regenten, berauscht vom Beifall einer kleinen Residenz, Berlin leicht mit Weimar verwechseln kann, besonders wenn ihm der Berliner Skepticismus unbekannt geblieben. Daß aber eine Künstlerin von Urtheil, Bildung und Geschmack sich durch kindische Eitelkeit so völlig verblenden ließ, als Preciosa zwischen Weber’s himmlische Musik eine italienische Bravour-Arie mit Coloraturen (irr’ ich nicht aus der „diebischen Elster“) einzulegen: dafür giebt es weder Entschuldigung, noch Verzeihung! Das Berliner Parterre hatte denn auch dergleichen nicht vorwalten lassen, nicht einmal mildernde Umstände angenommen, hatte sein Verdict unnachsichtig kund gegeben und zwar mit dem so gesprochenen wie geschriebenen Wortspiele: „Die Jagemann jage man!“

Dieser Erinnerung suchte ich mich gewaltsam zu entschlagen, da ich hin ging, Maria Stuart zu sehen. Gewiß, ich brachte den besten Willen mit, wollte bewundern, anbeten wenn irgend möglich. Aber ach, es war unmöglich. Wo ich künstlerisch-natürlichen Vortrag, klar, sinnig, verständig, wo ich vor Allem meisterhafte Behandlung des Verses in rhythmischer und dennoch freier Bewegung, als Erbschaft aus Goethischer Zeit, erwarten zu dürfen glaubte, klang nur eine pathetische, hohle und, was das Schlimmste war, kalte Declamation entgegen, die nicht einmal durch ruckweise dazwischen auflodernde feurige Leidenschaftlichkeit[WS 2], wie etwa bei französischen Tragöden, belebt wurde. Mir erschien Alles äußerlich, keine Spur von innerer Seele. Ich saß erstarrt. Gern hätt’ ich meinen Nachbarn, deren einer Eckermann, leise Bekenntnisse mißmuthiger Enttäuschung abgelegt, doch an diese Erleichterung durfte ich nicht denken, denn „der Herr“ überwachte aus seiner kleinen Seiten-, nicht aus der mittleren Hofloge, jede Miene, jede Bewegung des Fremden. Und dieser zeigte sich feig genug, „Bravo!“ zu rufen und in die Hände zu klatschen, wenn die schottische Königin daraufhin loslegte.

(Fortsetzung folgt.)




Der Dichter und der Maler des deutschen Philisters.

Vor beinahe hundert Jahren saß die gewöhnliche Abendgesellschaft der „Honoratioren“ des westphälischen Städtchens Bochum trübselig um die trüben Kerzen gruppirt in sichtlicher Verstimmung; Der schneuzte unaufhörlich die Lichter, Jener purrte in der irdenen Pfeife, ein Dritter blies Ringe, ein Vierter stand vor dem winzigen rauchbeschlagenen Spiegel und drehte an seiner Frisur, just als ob’s ihm zu Herzen ging, daß ihm der Zopf so hinten hing. Wo bleibt der Doctor? hatte Jeder schon mehrmals gefragt, bis zuletzt der Wirth mit der Nachricht kam, ein Bergknappe, vom schlagenden Wetter gefährlich erkrankt, nehme des Arztes Hülfe noch zu später Stunde in Anspruch. Wenn der Doctor fehlte, dann stockte die ganze Conversation. Er war der Hecht im Karpfenteich, als solchen hatte ihn jedes Mitglied der Gesellschaft längst kennen und – fürchten gelernt. Wie persiflirte er die Gäste, wie unbarmherzig nahm er heute Diesen und morgen Jenen zum Stichblatt, und wen ließ er überhaupt ungeschoren? Das wußten Alle und dennoch konnten sie die Zeit seiner Ankunft nicht erwarten.

Die neunte Stunde war nahe, da hörte man den Wirth auf dem Flur sagen: „Gott sei Dank, daß Sie kommen!“ Und er kam; die breiten, dicknasigen, runden Gesichter des Stübchens schauten alle nach der Thür, als jetzt ein Mann mit feinem, spitzen Profil und blitzenden Augen über die Schwelle trat. Nun war Alles gut. Zwar erkaltete zu Hause das Abendessen, zwar erwartete die „Schwärmer“, wenn sie nicht prompt neun Uhr am Familientisch saßen, eine Gardinenpredigt – aber heute ging es nicht anders, denn wer konnte Neues nach Hause bringen, ohne den Doctor gesprochen zu haben!

Und der Doctor hatte Neues und diesmal ganz besonders Interessantes. Er zog ein kleines Zeitungsblatt hervor und verlas einen Aufsatz über Lavater’s Physiognomik, erklärte dann auch ausführlich die neue Erfindung des berühmten Gelehrten, „die Kunst, aus den Zügen des Antlitzes den Charakter des Menschen zu erkennen“, und als er mit schelmischem Blicke die Gesichter, welche sehr wenig boten, was man Physiognomie hätte nennen können, musterte, kam er zu dem Schluß: „Wir, wie wir hier sitzen, könnten dem Lavater einen interessanten Stoff bieten und zugleich die Probe machen, ob er etwas versteht. Lassen wir dem Manne alle unsere Silhouetten schicken, er mag danach unsere Charaktere beurtheilen. Ich will ihm dazu schreiben, er wohnt in Zürich, in vier Wochen können wir Antwort haben.“

Daß die bloße Linie des Profils, wie sie eine Silhouette bot, für den Beurtheiler der Gesichtszuge schwerlich ausreichen würde, diesen naheliegenden Zweifel äußerte Niemand, Jeder war von der Wichtigkeit seiner Person so überzeugt, daß er annahm, der Züricher Gelehrte werde nach dem Schattenriß unzweifelhaft schon den ganzen Geist des Antlitzes erkennen. Und hatten sie denn nicht Recht gehabt, so zu denken? Erschien nicht nach Monatsfrist der Doctor jubelnd in ihrem Kreise mit der Antwort? Lavater hatte ein Meisterstück gemacht! Der mehrere Bogen dicke Brief enthielt die ausführliche Schilderung des Charakters eines jeden Einzelnen, bis auf die Knochen waren der Pastor wie der Apotheker, der Berggeschworene wie der Materialhändler secirt und mit grausamer Treue geschildert. Von der Erlaubnis des Doctors, wonach Jeder seine Charakteristik mitnehmen könne für seine Frau, hat nicht ein Einziger Gebrauch gemacht.

Der Doctor hieß C. A. Kortum, und wenn wir nun noch hinzufügen, daß es derselbe ist, dessen Heldengedicht

„Leben, Meinungen und Thaten
Von Hieronymus Jobs, dem Candidaten,“

jenes unübertroffene Meisterstück des Knittelverses, heute ganz Deutschland kennt, so ist es wohl überflüssig zu bemerken, daß Lavater von dem ganzen Streich nie etwas erfuhr und daß Kortum dessen Namen nur benutzte, um an einer Gruppe von Philister-Originalen seinen sprudelnden Witz zu erproben und Studien für sein Epos zu machen.

Von seinem engen, kleinstädtischen Gesichtspunkte aus war der Mann im Stande, die Menschen so treffend darzustellen, daß man

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Progamm
  2. Vorlage: Ledenschaftlichkeit
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_091.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)