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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Später machten die beiden Männer noch einen Gang durch das Gut, wo Hermann dem Bruder verschiedene neue Einrichtungen zeigen wollte, und namentlich die Anlage einer Fabrik, auf die er großen Werth legte. Während dieser Zeit war Rosalie mit der Tante allein und hier fragte sie plötzlich:

„Ist Alfred von seinem Bruder abhängig?“

„Wie kommst Du darauf, Kind?“ entgegnete die alte Dame verwundert.

„Es fiel mir auf, daß er sich ihm bei verschiedenen Gelegenheiten unterordnete, ihm eine Art Vormundschaft einräumte.“

„Nun, die Stelle eines Vormunds hat Hermann ja auch an dem Bruder, dem er an Jahren so weit voraus ist, vertreten. Und treu hat er an ihm gehandelt, das ist wahr, und es Alfred nie empfinden lassen, daß dieser alles seiner Güte verdankt.“

„Es sind ja auch Brüder!“ rief Rosalie verwundert.

„Aber nur Halbbruder,“ erklärte die Tante, „das große Vermögen, welches Hermann besitzt, sowie das ganze Gut, stammt von seiner Mutter, der ersten Frau meines Bruders, die einer Seitenlinie unseres Hauses angehörte und denselben Namen trug. Wir übrigen Lossau’s sind ohne Vermögen – und dessen hat sich denn auch Alfred nicht zu schämen, da wir trotzdem in der Welt immer hochgeachtet gewesen sind.“

Die alte Dame hatte sich bei diesen Worten auf ihrem Sitz hoch und gerade aufgerichtet und blickte auf ihre junge Nichte in imponirender Weise, als wolle sie ihre Geringschätzung des Reichthums andeuten, welcher derselben in Kurzem zufallen würde. Rosalie aber achtete kaum darauf und schaute sinnend hinaus in den Park, wo sie Alfred heute zuerst begegnet war und über den sich jetzt bereits abendliche Schatten breiteten.

Sie ahnte kaum, daß sie zu derselben Zeit Gegenstand der Unterhaltung zwischen den beiden Brüdern war, die auf ihrem Wege dahinschritten. Alfred konnte sein Entzücken über die schöne Schwägerin nicht verbergen und rief aus:

„Wahrlich, Hermann, wenn ich nicht Dein Bruder wäre, ich beneidete Dich um Dein Glück und könnte es Dir streitig machen.“

Hermann hörte ihm mit stillem und glücklichem Lächeln zu. „Und doch bin ich es allein, der Rosaliens Werth richtig zu erkennen und zu schätzen weiß, denn ich habe das junge Gemüth gekannt seit seiner Kindheit, als mich die innigste Verehrung zu ihrer schönen Mutter hinzog, die mir auf dem Sterbebette ihr Kind gewissermaßen vermachte. War ich doch fast der einzige Freund, der ihr nach dem Tode des Gatten geblieben, und sie mußte für die Zukunft ihres Kindes zittern, das schutzlos einem rauhen Leben preisgegeben war.“

„Aber, wenn ich mich recht erinnere, lebte die Familie früher in glänzenden Verhältnissen,“ sagte Alfred.

„Allerdings; aber Glückswechsel, wie sie in der Kaufmannswelt häufig vorkommen, hatten dieselben mit einem Schlage vernichtet, und als Rosaliens Vater starb, war schon der Ruin seines Hauses erklärt, der Tod vielleicht eine Folge der Erschütterung und des schweren Kummers der Seinigen, die an Glanz und Wohlleben gewöhnt waren und nun allen Luxus, alle Annehmlichkeiten des Lebens entbehren sollten. Als auch die Mutter gestorben war, betrachtete ich mich als Rosaliens natürlichen Vormund und nachdem ich ihre Erziehung in einer Pension hatte vollenden lassen, bot ich der Verwaisten mein Haus an und stellte sie unter den Schutz der Tante, die mir nach dem Tode unserer Mutter die Wirthschaft führte.“

„Nun, das Weitere kann ich mir denken, seit ich in ihre schönen Augen gesehen habe!“ fiel Alfred lachend ein; „sie kam, sah und siegte, nicht wahr, Hermann?“

„Ich liebte sie – ja!“ entgegnete Hermann, und es war, als klänge eine leise Verstimmung über den Ton des Bruders aus seiner Antwort, „aber nicht um ihrer schönen Augen willen, sondern – –“

„Nun?“ fragte Alfred, als Hermann unerwartet stockte.

„Alfred, hältst Du es gerechtfertigt, daß ich, der ältere Mann, dem jungen, unerfahrenen Mädchen die Hand bot?“

„Wie, Hermann?“ fragte Alfred, der den Bruder nicht begriff.

Dieser achtete aber nicht auf ihn und fuhr fort, als müsse er seine Handlungsweise erklären, entschuldigen. „Sieh, das Auge eines Vaters kann nicht liebevoller und sorglicher den Charakter und das Wesen seines Kindes erforschen, als ich mich in Rosaliens Natur hineingelebt habe, und darum glaube ich mir zutrauen zu dürfen, daß ich sie die rechten Wege zu ihrem Glück leiten, sie vor den Gefahren schützen werde, die aus dieser Natur hervorwachsen können!“

Alfred faßte die letzte Bemerkung auf und fühlte sich von ihr betroffen.

„Aber sie ist ja einfach und harmlos wie ein. Kind,“ wandte er ein. „Von welchen Gefahren sprichst Du denn?“

„Laß es gut sein, Alfred!“ versetzte Hermann. „Manchmal erwacht schon ein Dämon, wenn man nur von ihm redet, und ich möchte eben alle Dämonen fern halten von dem Kleinod meines Herzens!“ –

Mit Alfred war ein neues, fröhliches Leben in das Haus gekommen. Beschäftigungen wurden vorgenommen, an die man lange nicht gedacht und die wenigstens Alfred und Rosalie, die beiden jüngsten Mitglieder der Gesellschaft, in die früheren Tage zurückversetzten, wo sie Kinderspiele mit einander getrieben hatten. Hermann war in dieser Zeit vielfach abwesend, oder von Geschäften in Anspruch genommen, welche die Bewirthschaftung des großen Gutes mit sich brachte und die sich gerade jetzt häuften, weil er auf seine nahe Abwesenheit Bedacht nehmen mußte. Um so mehr freute er sich über den Verkehr der jungen Leute, von denen ihm immer Eines, wie er scherzend zu sagen pflegte, die Sorge für die Unterhaltung des Andern abnähme, und forderte namentlich den Bruder auf, den Ruhm der Lossau’s, daß sie allezeit Ritter des schönen Geschlechts gewesen seien, aufrecht zu halten. So kam denn Alfred bald kaum noch von Rosaliens Seite. Er begleitete sie auf ihren Gängen durch den Park, half ihr die zahmen Rehe füttern, die in einer weitläufigen Umzäunung gehalten wurden, oder schiffte sie auf dem zum Gute gehörigen See, was ihr Lieblingsvergnügen war. Sie dagegen sang ihm spanische Lieder vor, die sie theils aus ihrer frühern Kindheit im Gedächtniß behalten, theils von ihrer Mutter gelernt hatte, und er versuchte dann wohl, die Laute nachzubilden und sich die Worte ihrer schönen Sprache, die sie ihn zu lehren strebte, einzuprägen.

Während der ersten Tage hatte sie noch eine gewisse Schüchternheit beibehalten, bald aber riß sie die Lebhaftigkeit des Schwagers hin, so daß die Tante, einmal verwundert zu Hermann sagte: „Was hat nur die Rosalie, und welcher Geist ist plötzlich über sie gekommen, daß sie den ganzen Tag aussieht wie die Glücksprinzessin im Märchen?“

„Laß nur!“ versetzte er, „ihre Jugend hat an Alfred den passenden Gefährten gefunden, während wir Beide der Kleinen wohl manchmal etwas zu ernsthaft sind, und ich danke es ihm von Herzen, daß er ihren fröhlichen, leichten Sinn erweckt hat!“

Und Alfred selbst? – Er fühlte es bald nur zu gut, daß durch ihn ein anderes Denken und Empfinden in die Brust der jungen Schwägerin gekommen war; aber nicht das, welches der arglose Bruder voraussetzte: er fühlte es mit freudigem Triumph, daß ihre Blicke häufiger, feuriger auf ihm ruhten, als auf ihrem Verlobten, daß, wenn sie mit ihm redete, in ihrer Stimme ein Klang lag, den keiner sonst hervorzurufen vermochte – mit einem Wort, daß der Eindruck, welchen das schöne Mädchen gleich bei der ersten Begegnung auf ihn gemacht hatte und der mit jedem Tage wuchs, in demselben Grade von ihm auf sie übergegangen war. Wohl mahnte ihn Anfangs eine innere Stimme, sich bei Zeiten zurückzuziehen, das Vertrauen des Bruders nicht zu täuschen; aber dieselbe wurde schwächer und schwächer, je mehr ihn der Zauber von Rosaliens Schönheit und Lieblichkeit umstrickte, je mehr er sah, daß sie all’ ihre Freude, ihr Glück nur noch in seiner Nähe suchte. Dennoch war zwischen den beiden jungen Leuten nie von ihren Gefühlen die Rede gewesen; er fühlte instinctmäßig, daß sie die ihrigen selbst nicht kannte, und wenn er sich auch an ihnen weidete – er wagte nicht, ihr die Augen zu öffnen, und sie spielte ruhig wie ein Kind am Rande des Abgrunds mit ihren Blumen.

An einem dieser Tage hatte Hermann eine Besichtigung auf dem entferntesten Theile des Gutes vorzunehmen, und da ihn dieselbe bis zum Abend in Anspruch nahm, beschlossen Rosalie und Alfred, einen größeren Spaziergang zu machen und seine Rückkehr dann an einem bestimmten Platz in dem an den Park stoßenden Wäldchen zu erwarten. Der Weg hatte sie auf eins der in der Nähe von Lossau liegenden Dörfer hinausgeführt, und nachdem sie an den ziemlich ärmlichen Hütten vorbeigegangen waren, gelangten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_067.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)