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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Mal derb auslachte. Nur ein Einziger lachte nicht mit, der lauschte erfreut der gewaltigen, klangvollen, aber noch mehr als rohen Stimme. Das war der alte Schneider an seinem Pulte. Sofort nach der Vorstellung begab er sich zum Director und frug: „Wer war denn der Nachtwächter heute?“

„Das war ja Niemann!“ antwortete dieser lächelnd.

„Das war Niemann?“ brummte der Capellmeister wieder. „Das ist ein Teufelskerl – – soll morgen früh vor der Probe in den Probirsaal kommen – will seine Stimme näher untersuchen.“

Am andern Morgen stand Niemann zitternd und mit bleichen Mienen vor dem gefürchteten Capellmeister am Clavier, der ihn mit den Worten: „Tonleiter singen!“ anherrschte und dabei auf dem Flügel Ton für Ton ganz so langsam anschlug, wie Niemann die Scala singen mußte. Und wie nun einer dieser Töne immer kräftiger und reiner als der andere mit einer Macht aus der Brust hervorquoll, wie es selbst der alte Capellmeister noch nie gehört, und selbst das hohe f und dann das g und zuletzt gar das hohe a, ohne zu fistuliren, voll und klar mit der Bruststimme gegeben wurde, da erheiterten sich selbst des alten Schneider’s Züge, als ob ihm der lieblichste Ton aus seinem „Weltgericht“ erklungen wäre, und er trat an den jungen Sänger heran und brummte: „Sie müssen singen lernen, auf der Stelle singen lernen. Nusch soll Ihnen unter meiner speciellen Aufsicht und Leitung Unterricht geben.“ Mit diesen Worten öffnete er die Thür, rief seinen Lieblingsbaritonisten, den bewährten Gesangslehrer Nusch, herein und übergab ihm den neuen Schüler. „Kann noch was d’raus werden,“ meinte Schneider, „aber Fleiß verlang', ich – viel Fleiß !“

Und an Fleiß ließ es Niemann nicht fehlen. Seine musikalischen Studien beschäftigten ihn Tag und Nacht. Dem Hugenottennachtwächter folgte der Propheten-Bote als nächste Sprosse auf der Himmelsleiter, die ihn endlich, aber erst nach einer Reihe von Jahren und nach vielen Prüfungen, aus der armseligen Obscurität der kleinsten Bühnen, erst von Halle nach Berlin und zuletzt nach Hannover führte, zu den höchsten Ehren, die jemals ein deutscher Tenorist im Inlands wie im Auslande geerntet hat. Schon im Jahre 1859 warb er mit seiner Gattin (die vormalige Marie Seebach) um die höchsten Kränze des Ruhmes. Glänzende Gastspiele machten bald seinen Ruf bekannt, aber immer noch strebte er unermüdlich. Freilich war an die Stelle des verewigten Friedrich Schneider später ein anderer Mentor in der Person des berühmten Gesanglehrers Duprez in Paris getreten. Doch ehe noch zehn Jahre seit jenem grauen Novembertage zu Dessau verstrichen – was war da aus Niemann geworden und was ist er jetzt?! –

Treten wir in eine Loge des Berliner Opernhauses. Es ist besetzt bis zum letzten Platze, und mancher davon ist wohl drei- und vierfach bezahlt, denn Niemann singt heute den „Tannhäuser“. Wuchtige Tonwellen voll verborgener Zauberkraft, groß, wild leidenschaftlich wie das Weltmeer in seiner Erhabenheit, rauschen uns entgegen; die ganze Macht der Musik reißt wie ein brausender Strom uns in ihre unendlichen Strudel; das Feenreich in der von Perlen und Korallen und magisch glitzerndem Gestein schimmernden Grotte durchtobt ein schwüler, chaotischer Kampf sinnverwirrend, herzumstrickend, wie die schweren, wuchtigen Dissonanzen mit unendlicher Gewalt nach harmonischer Auflösung ringend, – und mitten durch dieses Toben, durch der Tonfluth chaotische Wildniß tönt eine Stimme, eine Stimme, sage ich? Nein, es ist mehr als Stimme, es ist eine Tongewalt, die keinen Widerstand und keine Grenzen kennt und sich Luft macht in den Worten: „Mein Heil ruht in Maria!“ – Da steht er, der Sänger, dem diese Töne mit bezwingender Macht von den Lippen flossen, – da steht er, den mächtigen männlich schönen Körper hoch emporgerichtet, Blicke und Hände voll Begeisterung gen Himmel erhoben; – da steht er, aus dessen wogender Brust, noch von den Lüsten der Leidenschaften geschwellt, der Hülfeschrei sich losrang, vor dem das Reich der Sinnlichkeit prasselnd zusammensank: es ist Niemann, der größte Tenorist unserer Tage, dem das entzückte Publicum begeistert zujauchzt; dessen Kommen und Gehen an jeder deutschen Bühne einem Triumphzuge gleicht und dem schon unzählige Male für seinen Tannhäuser, Lohengrin, Rienzi, Cortez, Masaniello der Lorbeer auf das Haupt gedrückt worden ist – auch in Dessau, wo er nach bereits erlangtem Ruhme drei Mal in einer Woche den „Tannhäuser“ unter dem begeisterungsvollsten Jubel auch seiner einstmaligen „Freunde“ gesungen hat. Gewiß, eine herrliche Genugthuung, der aber zu voller Beglückung des Künstlers nur etwas fehlte: der seelenvolle Zauberblick Friedrich Schneider’s, wenn er zufrieden und beseligt war. Der alte Meister war schon heimgegangen und hatte den Ruhm seines einstmaligen Schülers nicht erlebt.




Blätter und Blüthen

Ein zweites Lugau! – Eben bei der Schließung dieser – im Druck außerdem noch verspäteten – Nummer geht uns die erschütternde Kunde von dem gräßlichen Unglück auf der Kohlenzeche Neu-Iserlohn im Münsterlande zu. Nach den ersten Nachrichten ist der Jammer von Lugau hier nahe erreicht, da aller Wahrscheinlichkeit nach die Zahl der Todten die Achtzig weit überschreiten wird. Wir haben deshalb, um eine mögliche Hülfe rasch zu bieten, einen ursprünglich noch für die Luganer bestimmten Gabenrest sofort für die Unglücklichen von Neu-Iserlohn an Herrn Crüvell in Dortmund geschickt, überzeugt, daß die Geber selbst dieser Verwendung ihrer Liebesopfer um so mehr beistimmen, als für die Wittwen und Waisen in Lugau bei einer Einnahme von circa hundertundzwanzigtausend Thaler nunmehr gewiß ausgiebig gesorgt ist.


Kleiner Briefkasten.

Herrn S. in Ch. Auf seine Anfrage betreffs des Aufsatzes über Europas natürliche Heizung (Nr. 46, 1867). Wenn die Erde gänzlich von Wasser bedeckt wäre, so würde fortwährend um dieselbe ein Strom von Ost nach West fließen, hauptsächlich um den Aequator. Der Grund ist ein vierfacher: 1. Der rasche Umschwung der Erde von Ost nach West (am Aequator 225 Meilen in der Stunde betragend) kann von den flüssigen Theilen nicht so schnell mitgemacht werden: nach dem Gesetz der Trägheit und vermöge der Verschiebbarkeit ihrer feinsten Tropfen stemmen sie sich dem Umschwung der festen Theile entgegen, so daß sie sich scheinbar von Ost nach West bewegen. (Wie der Passatwind.) – 2. In noch höherem Maße gilt dies von den aus den Polargegenden zuströmenden kalten Meeresströmungen, welche fortwährend die am Aequator reichlich verdunstenden Wassermassen ersetzen. (Auch dies entspricht ganz der Entstehung des Ostpassats.) – 3. Die in der Aequatorgegend vorherrschenden ostwestlichen Winde (Passate) treiben einen Theil der Fluthen (der oberflächlichen) gleichfalls nach Westen hin. – 4. Dasselbe thut die Anziehungskraft des Mondes und der Sonne, welche alltäglich eine große Doppelwelle (die sogenannte Fluth) um die ganze Erde herumtreibt und dadurch auch eine große Wassermasse in der Richtung von Ost nach West fortbewegt. – Drei große Barren stemmen sich dieser ostwestlich fließenden Wassermasse des Oceans entgegen: dies sind die drei Festländer von Amerika, Asien und Afrika. Daraus erklären sich die Hauptthatsachen der Meeresstürme.

Prof. Dr. H. E. Richter.

K. L. in W. Geduld – Geduld, wir können die versprochenen Beiträge immer nur nach und nach veröffentlichen. Die nächsten Nummern bringen also: Aus meinem Leben, von Karl von Holtei.– Aus dem Schwarzwald, von Ludwig Steub. – Im Hause Robert Stephenson’s, von M. M. von Weber. – Eine Audienz beim König von Italien. – Meine Flucht von Caprera, geschildert von Garibaldi selbst. – Der Dichter und der Maler des deutschen Philisters. – Heinrich der Fünfte und sein Hof etc. etc.


Opferstock für Ostpreußen.

Unaufgefordert und noch ehe wir den Aufruf der heutigen Nummer veröffentlichen konnten, gingen uns zu: E Freund in Buchholz 5 Thlr.; Prof. C. Bock 10 Thlr.; aus Buchholz 1 Thlr.; Cramer in Jeßnitz 1 Thlr.; W. G. in St. Petersburg 25 Thlr.; Gesangverein Typographia in Leipzig durch Herrn Factor Schuwardt 6 Thlr.; von einigen Gymnasiasten in Worms 6 Thlr. 25 1/2 Sgr.; Eduard L-r in Prag 14 Thlr.; Kegelei der Zippelmützenritter in Leipzig 5 Thlr.; ein Ungenannter aus Bamberg mit den Worten: „Gedenket des Hungers und der Kälte in Ostpreußen, gedenket der Noth und des Mangels im fleißigen Erzgebirge, gedenket, wenn Ihr Euch zum erwärmenden Mittagsmahle niedersetzet, Eurer hungernden Brüder und ihres Elendes, und helfet ihnen mit so viel oder so wenig als Ihr könnt,“ 100 Gulden, wovon die Hälfte dem Erzgebirge (für Johann-Georgenstadt) zukömmt; Carl Wuttky in Jeßnitz 1 Thlr.; Redaction der Gartenlaube 100 Thlr.

Redaction der Gartenlaube.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_064.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)