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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

„Also es geht noch weiter?“

„Ja, bis Walluf.“

„Hurrah!“

Bald ist auch Mainz hinter uns. In Biebrich wird ausgeschnallt und ein Imbiß genommen. Die Bahn war eine Viertelstunde weit durch Scholleneis unterbrochen. Dann schnallten wir wieder an. Was aber jetzt kam, dagegen trat alles Bisherige in den Hintergrund. Kaum hatten wir uns an den Anblick des breiten zu Eiswellen erstarrten Stromes gewöhnt, als wir auf dem bald schmaleren, bald breiteren Pfad, welchen das Schwellwasser geebnet, uns Schriesheim näherten und hier nach Recognoscirung des Hafens entdeckten, daß zwischen da und Walluf ein ganzer See grasgrünen, spiegelblanken, fußdicken Eises sich ausdehnte, auf welchem eine fröhliche Jugend sich tummelte. Härte und Glätte des Eises waren so groß, daß wir anfangs mit den Stahlschuhen ausglitten. Dann schwebten wir beim Abschiedsleuchten der Sonne, die auf der Bahn sich goldig grün spiegelte, unter künstlichem Curvenschneiden langsam, wonnig, beglückt dahin, um den Tag bei einen Becher duftenden Rheinweines zu schließen, der am ganzen Strom in keinem Wirthshaus besser zu finden ist, als in der Schenke zu Walluf. – Um zehn Uhr Nachts langten wir mit der Eisenbahn wieder in Frankfurt an, nachdem wir einen der herrlichsten Tage verlebt. Und ebenso ging es einen zweiten und einen dritten Tag! Die Geschäfte wurden an den Nagel gehängt; das Wetter richtete sich ja nicht nach den Geschäften[WS 1]. Am vierten Tag beabsichtigten wir unsere Expedition bis Worms auszudehnen, weil wir gehört hatten, daß die Bahn bis dahin frei sei, allein das Wetter schlug um. Es kam Schnee und dann Regen, welcher bald die Eisdecke des Maines brach. Auch die des Oberrheins ging fort.

Nur am Binger Loch hatte sich merkwürdiger Weise bis auf den Grund eine solche Eismasse gethürmt und gestopft, daß dieselbe bis zum März nicht durchbrochen wurde und man Wassersnoth fürchtete; jedoch lief Alles noch glücklich ab. Uns aber gelang es noch am 3. März, indem wir eines Nachmittags von Frankfurt aus mit Eisenbahn bis in die Nähe des Johannisbergs eilten, den Rhein von da bis Bingen mit Schlittschuhen zu überschreiten, ein paar Stunden bis Abend auf dem Binger Loch herum zu fahren und nach Einkehr bei einem unserer gastfreien Rüdesheimer Freunde mit dem letzten Zug zurückzukehren. Das Thauwetter hatte nämlich die Oberfläche des Rheins zwischen Rüdesheim und Bingen nivellirt, und da die Decke viele Schuh dick war und von unten herauf gefrieren half, so hatte ein gelinder Märzfrost genügt, um eine brauchbare Bahn herzustellen.

Ich stand schon auf mancher Hochalpenspitze; einmal lag fast die ganze Schweiz wie eine Landkarte vor meinen Augen, das Wetter war so klar, daß ich in alle vier Nachbarländer sah, nach Italien und Deutschland, nach Oesterreich und Frankreich, von der Rauhen Alb und dem Schwarzwald bis zum Monte Generoso, vom Montblanc bis zur Ortelsspitze – ein Anblick unermeßlicher Erhabenheit! Dennoch war das dabei genossene Glück nicht schöner und reiner, als bei jener Eisfahrt. Solche Fahrten müssen aber im Norden Deutschlands – in den Niederlanden geschehen sie bereits – viel häufiger zu machen sein, als man weiß. Die Spree und Havel, die Elbe, die Oder, die norddeutschen Seen und Canäle, die Haffs der Ostsee und endlich in strengen Wintern das baltische Meer selbst, an dessen Ufern der Schlittschuh vor Zeiten erfunden wurde, müßten Gelegenheit zu wunderbaren Ausflügen geben, welche vielleicht dereinst Touristen ebenso anlocken, wie die Gletscher der Alpen. Nur müssen sich Gesellschaften mit Zweigvereinen und Sectionen bilden, ähnlich dem englischen und dem schweizerischen Alpenclub, welche die Gelegenheit auskundschaften und Mittel haben, um bei Schneefall große Strecken reinigen zu lassen.

Nicht immer aber kann oder will man weite Expeditionen machen; meist ist der Raum enge zugemessen, auch zeigt sich nirgends mehr, daß der Mensch ein Gesellschaftsgeschöpf ist. Dafür giebt es mannigfache andere Belustigungen; die berühmten jährlichen Wettläufe auf dem Eis in Friesland könnten überall eingeführt werden. Haben wir doch am Rhein und Main nächtliche Fackeltänze, Quadrillen mit Musikbegleitung, für welche manche schöne, edle Dame schwärmt, aufgeführt, und ist nicht der Baarlauf oder das Kriegsspiel auf dem Eise viel reizender als auf dem Lande? Ist nicht in Frankfurt a. M., wenn der Main zwischen den beiden Brücken glatte Bahn bietet, der berühmte Eiscorso, wenn neben Hunderten von Schlittschuhläuferinnen und Tausenden von Schlittschuhläufern viele hübsche und feine Damen auf zahllosen Stuhlschlitten gefahren werden?

Das interessanteste und mannigfaltigste Vergnügen aber ist das Kunstfahren, als dessen Grundlage das sogenannte Bogenfahren zu betrachten ist. Es ist dies Bogenfahren jedoch nicht blos zur Augenweide und zum wonnigen Schweben der Glieder gut, denen Flügel zu wachsen scheinen, so frei fühlen sie sich von den Fesseln der plumpen, trägen Erde – sondern oft hat gar Mancher schon sich vor der bösen Ran gerettet, die aus einem Wasserloch oder aus berstendem Eise lauerte. Am interessantesten indessen ist es doch wohl jenem Nordamerikaner gegangen, der sich durch geschicktes Bogenfahren vom sicheren Tode rettete. Ein Ansiedler im fernen Nordwesten, wo Seen, Canäle und Flüsse, im Winter von Eis starrend, ein weites Feld zum Abenteuern darbieten, war zu Schlittschuh auf die Jagd gegangen. Dieselbe war erfolglos gewesen und die Munition ihm ausgegangen. Das gerieth er in Gefahr, selbst Jagdbeute zu werden. Er fuhr in langsamen langen Zügen heimwärts einen breiten Fluß hinab. Die Sonne war schon untergegangen und der aufgehende Mond streute ein elfisches Licht über das Eis und die schneebedeckten Bäume des Ufers. Der Ansiedler war in Träumen versunken an die väterliche Heimath im Osten. Da auf einmal hörte er ein Schnauben hinter sich. Er blickt herum, und man male sich sein Entsetzen: er sieht drei Wölfe, die ihn gewittert, in seiner Verfolgung begriffen. Der Mann zog aus, was die Kräfte ihm erlauben, allein die Wölfe wurden im Laufe durch die Glätte des Eises doch nicht so sehr aufgehalten, daß sie sich nicht nach und nach näherten. Von Zeit zu Zeit rückwärts geworfene Blicke ließen dem Mann keinen Zweifel mehr, daß die Raubthiere ihn erreichen mußten. Noch einmal zog er aus, was die Leibeskräfte zu leisten vermochten, er merkte indeß endlich, daß ihm der Athem ausging. In dieser äußersten Noth versuchte er es, sich durch Geistesgegenwart und Geschicklichkeit zu retten. Er konnte gut Bogen fahren und übertreten, während den Wölfen wegen ihres steifen Rückgrates das Wenden sehr schwer wird und auf dem Eise noch mehr erschwert wurde. Er mäßigte seinen Lauf, ließ die Wölfe herankommen, und wie er schon ihren glühenden Athem zu spüren wähnte und die gierigen Augen ihn zu verzehren schienen, machte er halb Kehrt und ließ die Wölfe an sich vorbeischießen. Der Athem ging dem Ansiedler leichter, sobald er die Wirkung seiner List sah. Die Raubthiere, obgleich sofort gewillt ihm nachzufolgen, obgleich versuchend, sich in’s Eis einzukrallen, wurden doch durch den eigenen Stoß und die Glätte des Eises noch eine gute Strecke fortgerissen. Bis sie sich inne gehalten, umgedreht und wieder in vollen Lauf gesetzt hatten, um auf den Verfolgten loszustürzen, hatte dieser sich erholt und in Bereitschaft gesetzt, in einem Bogen um die Wölfe herum seinen Weg fortzusetzen. Diese mußten auf’s Neue Kehrt machen und der Mann erhielt einen großen Vorsprung. Während er dieses Manöver öfter wiederholte, näherte er sich immer mehr der Ansiedelung, so daß endlich ein Ruf seinerseits ein Echo fand und die Wölfe, die Nähe menschlicher Wohnungen merkend, die Verfolgung einstellten.

Wenn ich mich schließlich zu den eigentlichen Adepten unserer Kunst wende, so geschieht es deshalb, weil ich in mehr als dreißigjähriger Uebung einige Combinationen gelernt habe, die, ich will nicht sagen, unbekannt sind, welche ich aber bei meinen vielfachen Reisen nirgends ausgeführt gesehen habe, aber doch gern in weiteren Kreisen verbreiten möchte.

Das gewöhnliche Schlittschuhlaufen im Schneckenlaufe und mit Ausziehen, beides vorwärts und rückwärts, das Uebertreten vorwärts und rückwärts und den Bogenlauf vorwärts und rückwärts, auswärts und einwärts, mit und ohne Ueberschlagen, das Rückwärts- und Vorwärtsspringen im schnellsten Lauf, den Tanzmeister- oder Schneiderzug, d. h. das Geradeausfahren in einem Strich mit quergestellten Füßen, so daß die Absätze sich berühren, den Weit- und Hochsprung, die Schlangenlinie mit einem Fuß, sowie das sechs bis acht Mal auf dem Absatz sich Drehen, was nur mit Schlittschuhen der alten Façon geht, deren Eisen vor dem Absatz aufhören, – dies Alles setze ich als bekannt voraus.

Hier muß ich zuvörderst den allgemeinen Glauben an das „Namenschreiben“ unter die Mythen verweisen, fast wie Vater Raff’s Gemsjäger, der, verstiegen, sich die Fersen aufschneidet, um

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Geschäfen
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_830.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)