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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

vor, doch wagte ich, aus zu großer Ehrfurcht, nicht, etwas zu bemerken, und begann auf der Stelle. Nie in meinem ganzen Leben bin ich so befangen gewesen: die Gedanken drängten sich zwar in Masse herzu, die Reime waren, wie immer, zur Hand, aber die Sprache wurde mir so schwer, als müßte ich die Worte wie mit einem Schöpfrade aus der tiefsten Brust herausholen. Allmählich besiegte ich diese Befangenheit, die mir physisch allein hinderlich war, etwas; ich führte nun meine Empfindung bei dem Wiedersehen der Meinigen in einer zwar einfachen, aber strengen Form, mit gekreuzten Reimen und daran sich schließenden Doppelreimen, durch und wollte nun zu dem objectiven Theil übergehen und die Schilderung mit der Beschreibung eines Abends auf dem Jungfernstiege beginnen und dann im Gegensatz einen Morgen im Hafen und einen Mittag an der Börse zubringen; da traten mir aber plötzlich Erinnerungen an allerlei komische, in Hamburg wohlbekannte Personen, welche stereotype Besucher obiger Promenade waren, vor die Sinne und drangen sich mir so nachdrücklich auf, daß ich sie gar nicht von mir schütteln konnte. Dies verwirrte mich, ich fühlte, daß ich aus dieser wunderlichen humoristischen Stimmung nicht heraus könne, und fürchtete, er werde es übel empfinden, wenn ich ihr freien Lauf ließe. Unwillkürlich hielt ich mitten in der Rede inne, sprang vom Stuhl auf, trat zu ihm und sagte, ohne recht zu wissen, was ich that: ‚Excellenz, ich kann nicht weiter, ich habe mich lange nach diesem Augenblick gesehnt und jetzt, wo er eingetreten ist, lähmt mir die Angst die Herrschaft über mich selbst, ich will lieber vor tausend Zuhörern improvisiren, als vor Ew. Excellenz allein.‘

‚Nun, nun,‘ erwiderte Goethe, ‚beruhigen Sie sich. Was mir mein gnädigster Herr, die Kinder und der Kanzler über Sie gesagt haben, ist wahr; Sie besitzen ein schönes und seltenes Talent und wissen es mit Geschick und Bescheidenheit zu behandeln; aber Sie leiden an einem Fehler, an dem die jetzige ganze Jugend krankt und der Sie zurückbringt, statt Sie zu fördern, weil er Sie über das, was Sie geben, täuscht. Was Sie mir da geschildert haben, sollte Hamburg sein, aber es konnte ebensogut Naumburg oder Merseburg oder jedes andere Burg sein; Hamburg war das nicht, und Hamburg ist doch so eigenthümlich, daß man es mit zwei Strichen zeichnen kann.‘

Ich verstand ihn sogleich und erzählte ihm, wie es mir eben wunderlich ergangen sei.

‚Ei,‘ versetzte er, ‚da hätten Sie sich nicht sollen irren lassen.‘

Als ich nun bemerkte, daß ich gern, wo ich es nöthig fände, vorherrschend objectiv verfahre, und ihm als Beispiel meine dramatische Improvisation vom gestrigen Abend anführte, in die ich eine detaillirte, im Augenblick erfundene Beschreibung der mexicanischen Götzenbilder verflochten, versetzte Goethe:

‚Das war recht gut, man hat mir davon gesagt, aber das ist es noch nicht, solche Beschreibungen haben immer etwas Subjectives; ich meine noch etwas Anderes. Denken Sie darüber nach, wenn Sie meinen, daß Ihnen mein Rath nützen könne, und nun gehen Sie zu meinen Kindern hinauf, wo Sie erwartet werden.‘“

Goethe und Eckermann setzten am folgenden Abend die Verhandlung über den Gegenstand, der ganz Weimar bewegte, fort. Goethe sagte unter Anderem: „Ich bin aufrichtig gegen ihn (Wolff) gewesen, und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn angeregt haben, so ist das ein sehr gutes Zeichen. Er ist ein entschiedenes Talent, daran ist kein Zweifel, allein er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit, an der Subjectivität, und davon möchte ich ihn heilen. Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu versuchen. ‚Schildern Sie mir,‘ sagte ich, ‚Ihre Rückkehr nach Hamburg.‘ Dazu war er nun sogleich bereit und fing auf der Stelle in wohlklingenden Versen an zu sprechen. Ich mußte ihn bewundern, allein ich konnte ihn nicht loben. –“ Goethe wiederholt, was wir bereits wissen, von der Hamburger Eigenartigkeit etc., und fügt im Verlauf des Gesprächs hinzu: „Ich bin gewiß, wenn es einem improvisatorischen Talent, wie Wolff, gelänge, das Leben großer Städte, wie Rom, Neapel, Wien, Hamburg, London, mit aller treffenden Wahrheit zu schildern und so lebendig, daß sie (das Publicum) glaubten, es mit eigenen Augen zu sehen, er würde Alles entzücken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durchbricht, so ist er geborgen, es liegt in ihm, denn er ist nicht ohne Phantasie. Nur muß er sich schnell entschließen und es zu ergreifen wagen.“

Wolff hatte den Muth zu dem Griffe und that ihn mit der Gründlichkeit und Energie, die ihn immer bei seinen Studien leiteten. Er hatte die Wahrheit in Goethe’s Fingerzeig erkannt und säumte keinen Augenblick, die neue Bahn einzuschlagen, so schwer sie ihm auch anfangs wurde. Formell hatte er ja längst sein Talent nach allen Richtungen hin gebildet und nicht allein es dahin gebracht, lyrisch, episch und dramatisch zu improvisiren, sondern auch sich jede Beschränkung, wie z. B. eigenthümliche Strophenbildung, bestimmte Wörter und Reime, mit denen angefangen oder geendet werden sollte, und dergleichen Spielereien mehr, zugleich mit dem Thema vorschreiben zu lassen, ohne daß ihn dies im Mindesten störte.

So hatte denn der erste deutsche Improvisator alles Mögliche gethan, um vom größten deutschen Dichter nicht blos bewundert, sondern auch gelobt zu werden. Was würde in jedem andern Lande, als Deutschland, jetzt dieses Mannes Loos gewesen sein? Würden die Medicäer Italiens ihm eine Lehrerstelle angeboten haben, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er von dem nun des höchsten Glanzes würdigen Talente durchaus keinen öffentlichen Gebrauch mehr mache?

In Deutschland ist dies möglich gewesen, mit dem ersten deutschen Improvisator ist es geschehen. Daß er selbst in dieses Zusammenbinden seiner Flügel gewilligt, ist nicht ihm als Schuld anzurechnen. Eine Schuld fällt überhaupt auf keine der betheiligten Personen, sondern auf die deutschen Verhältnisse. Einen Improvisator hatte endlich Deutschland, aber für diesen fehlte das unbefangen empfangende Volk oder ein ihn sogleich in seine rechte Ehre einsetzender Hof. Karl August und Goethe waren alte Herren geworden, von einer großen, reichen Vergangenheit gesättigt, von Verehrung übersättigt, zogen sie in ihren Gewohnheitskreis nicht mehr Neues, namentlich, wenn es sie zu sehr zu „zerstreuen“ drohte. Und trotz der Erlauchtheit ihrer Geister waren sie doch nicht frei von dem allherrschenden Vorurtheil, welches in der öffentlichen und öffentlich bezahlten Ausübung einer so rein persönlichen Kunst, wie das Improvisiren es ist, etwas mit der Ehrsamkeit der bürgerlichen und der Würde einer amtlichen Stellung Unvereinbares erblickte. Wäre Wolff ein reicher Mann gewesen, wie gern würde er ganz Deutschland mit seinem Talent um keinen andern Lohn erfreut haben, als den der Anerkennung, wie er denn später noch oft äußerte, daß nie ein verdienter Lohn ihn höher entzückt habe, als der jenes Augenblicks in Wolfenbüttel, wo seine Improvisation schönen Augen Thränen entlockt hatte. Aus einer tüchtigen bürgerlichen Familie entsprossen und gewöhnt an den Erwerb als Lehrer und Schriftsteller, erfüllte ihn, trotz aller öffentlichen Lobeserhebungen, mehr und mehr ein Widerwille gegen die Nothwendigkeit, seine hohe Begabung zu Markte zu tragen. Darum nahm er die ihm angetragene Professur am Gymnasium in Weimar sofort an; mußte er doch bei der damals noch allgemeinen zunftstolzen Abgeschlossenheit des Gelehrtenthums vom bürgerlichen und öffentlichen Leben befürchten, bei einer späteren Rückkehr von den Brettern der Oeffentlichkeit zu demselben nicht mehr als vollgültig angenommen zu werden! – Der Arme! Er ahnte nicht, daß dieses Unglück bereits fertig war.

Wolff improvisirte nur noch in Leipzig und Dresden, nahm dann in Hamburg, wo er den ersten Lorbeer errungen, in einer letzten Soirée von der öffentlichen Ausübung seines Talentes Abschied[1] und trat am 9. Mai 1826 sein Amt in Weimar an. Im Jahre 1832 siedelte er als Professor der neuern Sprachen und Literaturen nach Jena über.

Als akademischer Lehrer war Wolff eine geradezu epochemachende Erscheinung. Die Mehrzahl der Professoren huldigte


  1. Nach Wolff haben sich als öffentliche Improvisatoren in Deutschland hervorgethan: Maximilian Langenschwarz, der bei großer Begabung und Gewandtheit leider sich vom Hang zum Humbug nicht frei erhielt und dadurch der Würde der seltenen Kunst schadete; Eduard Beermann, der in glücklichen Stunden Gutes leistete; Eduard Volkert, dessen treffliches Talent von Armuth und Sorge erdrückt wurde und der (1865) zu Schwabach im Armenhause starb. Der ausgezeichnetste deutsche Improvisator der Gegenwart ist Wilhelm Herrmann aus Braunschweig, der würdigste Nachfolger und dankbarste Verehrer seines großen Vorgängers Wolff. Er hat sich bis jetzt auf das lyrische und epische Fach beschränkt, leistet im Ernsten wie im Komischen Vortreffliches und erfreut namentlich im Sonnet und im Akrostichon oft durch überraschende Geistesblitze und reine, anziehende Sprache.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_810.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)