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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 51.

1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Heimath.
Eine Novelle in Briefen von Adolf Wilbrandt.
Briefe Friedrich’s an seine Schwester.
Fortsetzung.


Vierter Brief.

Wirst Du Dich nicht schon über das Postzeichen auf dem Couvert verwundert haben? Ja, meine liebe Julie, – noch bin ich hier. Warum? Weil ich ein gutes Herz habe, liebe Schwester; weil ich meine Jugendfreundin nicht in ihrer Elendigkeit verlassen wollte; weil ihre Erkrankung – doch ich muß es Dir, damit Du mich verstehst, zusammenhängend erzählen.

Schon vor jenem ernsten Abend, Julie, dessen Schilderung Dich so lebhaft gerührt hat, war Anna zuweilen bleich und matt gewesen (sonst ist sie immer blühend und gesund), aber Niemand hatte darauf geachtet, sie selber am wenigsten. Ich bemerkte nur, daß sie gern allein war, daß sie ihre Bekannten und Freundinnen mehrmals ablehnte, während sie gegen mich – das muß ich ihr nachsagen – sich liebenswürdiger, weicher, herzlicher zeigte, als zuvor. Ich war zwei Tage verreist, um in G… einen meiner Jugendfreunde zu besuchen. Als ich zurückkam, war mein erster Gang in das Haus vor dem Mühlenthor; denn diese letzten Tage sollten noch ganz den alten Freundschaften und Erinnerungen gewidmet sein. Es war kurz nach Tisch; ich fand Anna allein, sie saß auf dem Sopha, kläglich blaß, auf ihrem Schooß alte vergilbte Briefe ausgebreitet, und las und hatte Thränen in den Augen. Sowie sie mich sah, raffte sie die Briefe zusammen, versuchte zu lächeln und sagte: „Die Tante schläft, aber es ist schön, daß Du kommst,“ und wollte aufstehen, um die Briefe und die Thränen zu verbergen. „Anna,“ sagte ich, „wozu Dich wieder verstecken? Bin ich es denn so gar nicht werth, Dich ernst und bewegt zu sehen?“ Sie ward wieder purpurroth; dann aber kam die ganze Blässe zurück, ihre Augen standen voll neuer Thränen und sie hauchte hervor: „Du hast Recht. Ich habe in den Briefen meiner Mutter gelesen. Warum soll ich nicht traurig sein? Ich habe ihr Grab so lange nicht gesehen. Jetzt ist Alles voll süßer Blumen, – nur ihr Grab nicht. Ich möcht’ es besuchen, Friedrich, in dieser Stunde, es freundlich ausschmücken. Aber ich glaube,“ setzte sie matt und schwermüthig hinzu, „ich bin zu schwach, um allein hinauszugehen.“

„Wie,“ sagte ich erschrocken, „bist Du unwohl, Anna?“

„Das nicht,“ erwiderte sie, „aber matt bin ich, seltsam matt, wie ich mich gar nicht kenne. Und es ist etwas weit hinaus.“

„Könntest Du nicht eine Deiner Freundinnen bitten?“

„Nein,“ sagte sie hastig, „zum Grab meiner Mutter geh’ ich nicht mit den Menschen, nur allein.“ Dann setzte sie zögernd hinzu: „Nur mit Dir möcht’ ich hin, – wenn ich Dir nicht lästig falle. Du hast sie noch gekannt, Du bist auch nicht wie die Andern!“ Darauf wurde sie wieder stumm. Ich drückte ihr die Hand, bot ihr meinen Arm und führte sie hinaus.

Es war uns wohl Beiden seltsam, so miteinander auf der Landstraße, an den letzten Häusern vorbei, unter den alten Linden dahin zu ziehen. Sie suchte darüber zu scherzen, aber so oft uns ein Mensch begegnete, erröthete sie und sah fest auf den Boden. „Ich halte aus,“ sagte sie plötzlich und blickte mich mit einem reizend schwermüthigen Lächeln an; „ich will’s einmal versuchen, mir nichts aus den Menschen zu machen!“ Sie hatte sich, ehe wir gingen, drei schöne Blumenkränze über den Arm gehängt, die sie am Morgen gewunden hatte. Die schwüle, regenschwere Luft, der farbiggraue Himmel, die tiefe Beleuchtung stimmten ganz zu ihrem ernsten Unternehmen, und wie sie so langsam und bleich dahinging, konnte man sie nicht ohne Rührung betrachten. Ein paar Frauen saßen am Wege und boten uns Trauerkränze aus gemachten Blumen an, aber Anna wandte sich fast leidenschaftlich hinweg, zog mich weiter und sagte: „Diese todten Blumen sind mir schrecklich; will man denn nicht die armen stillen Gräber ein wenig lebendig machen?“ Dabei ließ sie mich los und that ein paar Schritte dem Bach entgegen, der sich an der Straße vorbeiplaudert, und pflückte dort noch eine Hand voll Vergißmeinnicht, um sie auch auf der Mutter Grab zu legen. So kamen wir hin. Als wir uns dem kleinen grünen Hügel näherten, warf sie mir einen bittenden Blick zu, den ich verstand. Ich blieb an der schönen, uralten Linde stehen, die so mitten auf dem Friedhof ihre ungeheure Krone über die nachbarlichen Gräber ausbreitet, wie eine Henne die Flügel über ihre Küchlein, gedachte meiner eigenen Todten und nahm mir vor, ihnen morgen die gleiche Liebe anzuthun, und überließ unterdessen Anna ihren einsamen Gefühlen. Als ich endlich zu ihr hinüberblickte, sah ich sie an der Mutter Grab hingesunken und in Thränen zerfließend.

Ich ließ sie sich ausweinen; sie richtete sich nach einer Weile wieder auf, wusch sich die Augen mit dem letzten Rest des Wassers, mit dem sie den Hügel und die Blumen begossen hatte, und kam zu mir zurück, um heimzugehen. Sie klagte, sie sei noch matter, als zuvor, aber eine unendliche Weichheit lag auf ihren Augen und um die Lippen, und sie fing an, von unserer ersten gemeinsamen Jugendzeit nach ihrer Verwaisung zu reden. Eine Erinnerung rief die andere wach, und uns fielen abwechselnd hundert kleine Erlebnisse und Stimmungen ein, an die wir nie mehr gedacht hatten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 801. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_801.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)