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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Moorbilder aus Muffrika.


Alle Leser kennen Afrika, wenn auch die meisten nur durch Lectüre, sehr wenige aber werden Muffrika kennen, zumal die Hannoveraner, die den Ausdruck brauchen, selbst nicht darüber einig zu sein scheinen, was eigentlich mit demselben zu bezeichnen. Der Eine meint damit jeden Landstrich, der, mehr oder weniger hinter der Entwickelung der übrigen Welt zurückgeblieben, mehr oder weniger einen Zug von Dürftigkeit, Beschränktheit und Krähwinklerthum hat. Anderen schwebt dabei im Allgemeinen der verhältnißmäßig wenig bereiste Westen des ehemaligen Welfenreichs vor. Wieder Andere denken damit speciell an das Meppensche an der Mittelems und der holländischen Grenze. Wir drücken uns vorsichtig wieder allgemeiner aus und sagen: Muffrika ist das Land, wo der Heerrauch oder Höhenrauch herkommt.

Alljährlich geschieht es, daß bald nach Eintritt der ersten trocknen Frühlingstage langsam am westlichen Horizont ein breiter gelblich-grauer Nebel emporsteigt und sich allmählich wie ein Schleier über die Gegend legt. Ein Vielen unheimlicher, Allen beschwerlicher Gast. Die Sonne wird verdüstert, die grünen Farben von Wald und Feld nehmen einen falben Schein an, ein häßlicher Geruch, halb wie von Brand, halb wie von Moder, läßt sich spüren, die Brust fühlt sich beklemmt, die Seele zu trüben Betrachtungen gestimmt. Der Landmann hält den Qualm für giftig und giebt ihm das Abfallen der Obstblüthe schuld, womit er Unrecht hat. Er glaubt, daß der „Heerrauch“ langersehnte und endlich erschienene Gewitter verhindere, den Segen des Regens über seine Saaten zu ergießen, und die Wissenschaft ertheilt ihm darin Recht. Am meisten leidet Hannover von dieser Erscheinung am deutschen Himmel, aber bis in die Weichselgegenden und bis an die Alpen treiben in manchen Jahren die Winde den garstigen Dunst.

Zersetzte Gewitter! sagte man früher, wenn nach der Herkunft des Heerrauchs gefragt wurde. Heutzutage wissen wir’s besser. Nicht vom Himmel steigt er nieder, sondern von der Erde auf, und zwar liegt sein Heerd vorzüglich in den großen Mooren der Westhälfte Hannovers, die mit ihren Sümpfen und Haiden noch für viele Deutsche ein völlig unbekanntes Land sind und in die wir, da sie zugleich einen interessanten Winkel der Welt ausmachen, trotz Heer- oder Moorrauch und trotz einiger andern Unfreundlichkeiten der Gegend jetzt einen Ausflug unternehmen wollen.

Nichts weniger als lachende Gefilde sind es, in die unser Plan uns führt, aber hier im Moor wie daneben auf der Haide liegt der beste Theil der Zukunft Hannovers. Hier in der noch ungebändigten Natur, wo Meilen auf Meilen Landes sich rein im Zustande der Urzeit befinden, lassen sich von fleißigen Händen, die von der Erfahrung geleitet und von der Technik der Neuzeit unterstützt sind, noch Schätze heben, welche man in dieser Welt von Sand und schwarzem Torfschlamme lange nicht geahnt hat. Die üppig fruchtbaren Marschen des Küstenstrichs, die fetten Weizenfluren des Leinethales, die schönen Thalsohlen des Hildesheimschen und Göttingenschen haben den Gipfel ihrer Ertragsfähigkeit bereits erreicht. Die Torflager der Moordistricte und die Ergiebigkeit der Oberfläche derselben, wenn sie in Ackerland verwandelt sind, was so wenig unmöglich, wie die Umgestaltung der sandigen Haide in saatlohnendes Feld, versprechen, neuerdings nach ihrem wahren Werthe gewürdigt, den Reichthum des ohnehin nicht armen Landes noch außerordentlich zu erhöhen.

Gegenwärtig hat man erst begonnen, diese Reichthümer auszubeuten. Die Moore im Westen Hannovers sind durch ihre Größe, ihre Unwegsamkeit Völkerscheiden, sie sind, wo sie Landschaften einfassen, Schranken für den Zugang der Cultur. Der Muffrikaner lebt dieser oft ferner als der Bewohner entlegener Inseln. Er lebt geraume Zeit im Jahre in einer Beschränkung wie in einer Oase der Wüste, und man merkt ihm das an. Nicht weniger als sechsunddreißig Quadratmeilen der westlichen Theile Hannovers aber sind Moor, und davon hat der Ackerbau bis jetzt nur verhältnißmäßig ganz unbedeutende Strecken in Angriff genommen.

Wandern wir im Geiste über eine dieser ungeheuren Flächen, z. B. über das nur von wenigen Pfaden durchschnittene, gegen achtzehn Geviertmeilen einnehmende Moor von Bourtange, so kommen wir an Stellen, wo der ebene Boden am Gesichtskreis von einer reinen Kreislinie umschlossen wird. Nirgends ein Baum, ein Strauch, eine Hütte, nirgends ein Gegenstand, der sich auch nur in der Höhe eines Kindes auf der scheinbar endlosen Einöde dem Auge abgrenzte. Auch die entlegneren Ansiedlungen, die, in Birkengehölz verborgen, einige Zeit noch wie bläuliche Eilande am Horizont auftauchten, sinken, wenn wir weiter in’s Moor hineinschreiten, unter die Scheibe, welche wir überblicken, hinab. Nichts zeigt sich uns mehr als schwarzer Schlamm, überkrochen von rostbrauner Haide und dürftigen Halbgräsern, dazwischen gelegentlich ein Tümpel mit dunklem Wasser und darüber der ewige Himmel. Nichts ist zu hören, kein Wagen, kein Hund, auf dem weichen Boden nicht einmal unser Tritt, nur bisweilen unterbricht die Melancholie der Stimmung, in die uns diese Schrankenlosigkeit und diese Einsamkeit versetzt, nur steigernd, der klagende Ruf eines Haidehuhns die tiefe, peinliche Stille.

Wer da wissen will, was Einsamkeit und Einförmigkeit ist, wer Reste der Welt sehen will, wie sie vor Jahrtausenden war, der braucht nicht auf das Meer hinauszuschiffen und nicht die fernen Wüsten des Morgenlands aufzusuchen, er findet hier seines Begehrens Genüge.

Aber nicht überall mehr zeigt uns das Moor diese großartige Ursprünglichkeit, diese tiefe Schwermuth, die wohl schon die römischen Legionen ergriff, als sie hier auf den langen Faschinendämmen und Knüppelstraßen, von denen jetzt noch Reste gefunden werden, zur Unterwerfung der Chauken vordrangen. Von der benachbarten Geest schieben sich an einigen Stellen in die Haidesümpfe trockne Landzungen auf eine kürzere oder längere Strecke hinein, und mit diesen Zangen – Tangen nennt sie das niederdeutsche Volk von Muffrika – ziehen die Anwohner des Moors dasselbe allmählich in das Bereich der Cultur. Heerden genügsamer Haidschnucken gehen nach den nächsten zum Anbau geeigneten Strecken gleichsam als Pioniere voraus. Nachdem ihr Dünger den Boden fruchtbar gemacht, wird letzterer durch kleine Canäle von der Tiefe einer Elle entwässert, und so entsteht Ackerland, welches, nachdem Pflug, Säemann und Egge darüber gewesen, Jahre hindurch gute Roggenernten gewährt. Daneben werden durch Ausstechen des Torfes bis auf einige Fuß und einfache Düngung Wiesen geschaffen, die werthvolles Gras geben. Man sieht, solche Eroberungszüge in’s Moor hinein lohnen sich. Da es dazu indeß großer Mengen thierischen Düngers bedarf, so geht es mit der Erweiterung dieser Moorcolonien langsam vorwärts, und nur kleine Strecken der Sumpfgegenden sind auf solche Weise bis jetzt bezwungen.

Eine zweite Methode, das Moor für den Menschen zu bewältigen und es ihm, abgesehen von dem Torf, den es dem Küchenfeuer liefert, nutzbar zu machen, fällt mit dem Verfahren zusammen, welches der Hinterwäldler Amerikas im Dienste der Cultur anwendet. Es ist, „was uns der Moorrauch erzählt“. Wir stehen an seinen Heerden. Man greift zum Feuer und brennt das Moor ab, um in die dadurch gewonnene Asche Buchweizen zu säen. Damit geht es natürlich rascher, und man nimmt an, daß jetzt alljährlich in Holland und Hannover fast drei Quadratmeilen Moor auf diesem Wege zeitweilig zu Saatland umgeschaffen werden. Die Arbeit des Colonisten ist dabei ziemlich einfach. Das Moor wird durch niedrige Gräben bis zu einer gewissen Tiefe entwässert, dann durch Behacken gelockert und schließlich im Juni, in trockenen Frühlingen auch schon früher, angezündet, woraus sich dann ein Schauspiel entwickelt, dem ähnlich, welches die Prairiebrände des fernen Westen darbieten.

Hundert blutrothen Schlangen gleich züngeln die Flammen über den schwarzen Boden hin, knisternd und prasselnd sinkt vor ihrem Odem das dürre Haidekraut zusammen, unendlicher Qualm steigt auf und wallt im Winde. Wie eine ungeheure Feuersbrunst sieht man bei Nacht unter dem Horizont lodernde Moorbrände am Himmelsbogen ihren Schein abspiegeln und statt des von ihrem Rauch verhüllten Mondes nach der Geest herüberleuchten. Endlich erlischt die Gluth. Eine weiße Aschendecke hat sich über die Brandstätte gelegt, der Qualm ist von dannen gezogen, und nachdem sich der Boden völlig abgekühlt, beginnt das Ausstreuen der Buchweizensaat, die an guten Stellen im Herbst für ein Korn dreißig bis vierzig zurückgiebt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_774.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)