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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Nach ein paar verständigenden Worten schritten Beide der Wirthin nach über die schmale gewundene Treppe in den engen langen Gang des obern Stockwerks, zu dessen beiden Seiten sich die Fremdenzimmer Thür an Thür reihten – die Wirthin deutete an das Ende des Ganges; dort, in der Ecke war das Zimmer des Gesuchten.

Das Gemach war klein und nur mit der nothdürftigsten Einrichtung versehen, wie sie für eine Nacht oder einen nur vorübergehenden Aufenthalt dem fremden Wirthshausgaste wohl genügt, für die Dauer aber ein so unwirthliches wie unheimisches Ansehen giebt. Eine angestrichene Bettstelle mit nicht sehr einladendem Lager darinnen, ein Tisch in der Ecke, eine Commode unter einem matten Spiegel und ein paar einfache Stühle mit Rohrsitzen bildeten nebst ein paar bemalten Steindruckbildern an den Wänden und den ausgewaschenen Kattunvorhängen der Fenster den ganzen Hausrath. Auf dem Ofensims, durch die vorspringende Kaminwand etwas gedeckt, brannte eine schwache Lampe und warf karges Licht, aber dafür desto sonderbarere Schattenbilder der Gegenstände an Wand und Decke; Tisch und Kasten waren mit Fläschchen und Gläsern bedeckt, deren Inhalt sich schon aus den Formen erkennen ließ und deren Anzahl zeigte, wie unsicher in der Wahl ihrer Heilmittel die ärztliche Kunst bereits diesem Lager gegenüber stand – der leichte Duft von Moschus verrieth dem Kundigen, daß sie schon eines der letzten versucht hatte, ein erlöschendes Leben noch einmal zu neuem Aufraffen anzutreiben.

Der alte Staudinger, unkenntlich, zum Gerippe abgezehrt, lag auf dem Bette mit geschlossenen Augen, eingebrochenen Wangen und zuckenden Lippen; die fleischlosen Hände ruhten auf der Decke und die Finger machten räthselhafte unfreiwillige Bewegungen, als versuchten sie etwas zu fassen und von der Decke aufzulesen. Zur Seite des Bettes stand eine weibliche Gestalt, in das schwarze Gewand und die dunkle Haube der barmherzigen Schwestern gekleidet, wie es die Novizinnen tragen, welche gesonnen sind, in den Orden einzutreten, und sich zu diesem Eintritt und zur Ablegung des ewigen Gelübdes durch strenge Ausübung der schweren Ordenspflichten einüben und vorbereiten. Die Nonne neigte sich leicht über den Kranken und schien mit theilnehmender Sorgfalt die Athemzüge desselben zu beobachten – plötzlich aber richtete sie sich rasch empor und eilte der Thür zu, draußen auf dem Gange ließen sich Tritte und Schritte vernehmen.

„Sie kommen,“ flüsterte sie vor sich hin, „das werden die Landsleut’ aus dem Oberland sein, von denen die Wirthin gesagt hat, daß sie den Herrn besuchen wollen.“

Die Stimmen wurden deutlicher; es war ein Klang darunter, den sie nicht verkennen konnte und der sie im Innersten ihrer Seele erbeben machte.

„Mein Gott,“ stammelte sie, „ist denn das nicht … ? Ja, er ist es! Wie kommt der daher? Was kann er bei dem Kranken wollen? .. Gleichviel! Du bist es auf keinen Fall, Franzi, was er sucht… Dich soll er nit zu Gesicht kriegen… Niemand, keine menschliche Seel’, die mich daheim verrathen könnt’, soll mir vor die Augen kommen…“

Sie eilte auf den halb erleuchteten Gang hinaus und kam eben recht, um den Herankommenden in einen Seitengang auszuweichen, dessen Dunkel, verbunden mit ihrer Tracht, sie gewiß machte, nicht erkannt zu werden.

„Das sind die zwei Männer aus dem Oberland,“ sagte die Wirthin, „sie haben was Wichtig’s mit dem Herrn Staudinger zu reden, was kein’ Aufschub vertragt – kann man hinein zu ihm?“

Die Schwester antwortete nicht; sie nickte blos und deutete nach der Thür des Krankenzimmers.

„Eine brave Person, die Schwester,“ sagte die Wirthin im Weiterschreiten, „sie pflegt den schwer kranken Mann, daß es eine Freud’ ist, ihr nur zuzuschau’n … eine eigene Tochter könnt’ nicht aufmerksamer sein – aber schier ein jedes Wort muß man ihr abkaufen! Die verredet sich gewiß nicht – die muß es wieder herein bringen, was unser Eins den ganzen Tag über zuviel reden muß … aber du lieber Gott, das geht halt einmal nicht anders in einem offenen Geschäft!“

Die Thür war bald erreicht; sie traten ein, die Wirthin ohne viele Umstände voran und geradezu an das Lager hin. „Da sind zwei Männer,“ sagte sie, ihn leicht an der Schulter fassend, „die wollen mit Ihnen reden, machen S’ die Augen auf, Herr Staudinger – es ist was sehr Wichtig’s…“

Der Angeredete schlug mit unverkennbarer Anstrengung die Augen auf; starr und trübe ruhte sein Blick auf den vor ihm Stehenden; er hatte die Worte vernommen und schien auch deren Sinn zu verstehen, denn es war eines Pulses Dauer, als ob sich das Auge belebe, als ob er die Männer erkenne und eine helle Bilderreihe an ihm vorüber schwebe; die Bilder schienen noch einmal sich zum Gedanken ordnen, der Gedanke sich zum Worte sammeln zu wollen – vergebens! Die der Auflösung entgegen eilenden überreizten oder ermatteten Organe gehorchten dem schwach aufflackernden Wollen nicht mehr, die starre Zunge blieb regungslos, die Lippe unbeweglich und mit einem Seufzer, der die arbeitende Brust erhob, um auf halbem Wege zu ersterben, fielen auch die verglasenden Augen wieder zu.

„Da ist es umsonst,“ sagte die Wirthin halbleise, „von dem ist nichts mehr zu erfragen, ihr Herr’n, der macht es keine Stunde mehr! Seht nur, die Nase wird schon ganz spitzig.“

Ernst zuckte der Lehrer die Achseln; Sixt schwieg in tiefer Bewegung – der Gedanke, daß wieder eine Spur, die wichtigste und letzte, verloren war, daß er wieder der vorigen noch gesteigerten Ungewißheit gegenüber stand, überfiel ihn mit seiner ganzen Last. Es war, als ob er darunter wanken wollte; mindestens mußte der scharfsichtige Lehrer etwas Solches glauben, denn er faßte dessen Arm in den seinigen und führte ihn zur Thür hinaus. Wie sie den Gang dahin schritten, wo die geschäftige Wirthin sie nicht hören konnte, sagte er leise mit festem Handdruck: „Die Courage nicht verloren! Der Garten wäre nicht so schön, wenn er nicht so viele Feinde hätte … aber mit rechter Sorge wird man doch über all’ die Raupen und Werren und Spinnen Herr; auf Regen folgt Sonnenschein und im Sonnenschein gehen die Knospen auf! Es ist was in mir, Sixt, was mir für gewiß sagt, daß wir sie doch finden, und das bald!“

Sie waren eben an dem dunklen Seitengange und an der barmherzigen Schwester vorübergegangen – kein Laut war ihr entgangen. Eine Wallung stieg in ihr auf, hell und leuchtend, wie der erste Aufblick einer emporsteigenden Freudensonne … er suchte Jemand; wie, wenn sie selbst es wäre, der sein Forschen galt? Wenn er sich anders besonnen, wenn er erkannt hätte, wie schweres Unrecht er ihr gethan? .. Der Gedanke war aber kaum ausgedacht, als er wieder hinter den Vorstellungen der Wirklichkeit sich verlor: graues Gewölk verbarg und umzog den anbrechenden Morgen. Hatte sie zuerst beinahe schon den Fuß erhoben, um hervor zu treten, so trat sie jetzt, wie um sich vor der eigenen Schwäche zu wahren, noch einige Schritte tiefer in das Dunkel; sie drückte die Falten des dunklen Gewandes fester an die Brust, sich selbst an ihren Vorsatz zu mahnen und an die ernste Pflicht, die sie in dem Krankrenzimmer übernommen; standhaft hörte sie die Tritte der sich Entfernenden immer weiter und schwächer verhallen. Sie war jetzt froh, daß sie es gethan – was auch hätte ihr Vortreten zu helfen vermocht? Mußte er nicht gar glauben, sie wolle sich in seinen Weg drängen, wolle ihn an das erinnern, was sie für ihn gethan? Sie, an die er vielleicht in keinem andern Sinne dachte, als daß es ihn drückte, ihr verpflichtet und der Schuldner eines verachteten, von ihm und der Welt verurtheilten Geschöpfes zu sein?

Tief aufathmend, aber in sich beruhigt, gehoben von dem Gefühle des Sieges, den sie über ihre eigene Schwäche errungen, ausgerüstet mit dem Bewußtsein voller Gewißheit und Kraft, ihr Opfer ganz zu vollenden!

Der Kranke lag wie zuvor, doch schien die Vorhersagung der Wirthin sich zu erfüllen. Der Zustand der Schwäche ging immer mehr in den vollständigen Nachlassens über: die Athemzüge wurden kürzer, schwerer und lauter und die Stirn bedeckte sich mit eisigen Tropfen. Ergriffen, ein leises Gebet auf den Lippen, stand die Barmherzige neben dem Leidenden und trocknete ihm mit sanfter Hand den kalten Schweiß vom Antlitz…

Da war es, als ob die Berührung noch einmal Leben und Bewegung in die erlahmenden Fibern und Sehnen brächte; als hätte der glimmende Docht vor dem Erlöschen noch einen letzten Tropfen Oel gesogen, … blitzähnlich oder wie wenn ein plötzlicher Windstoß die Nebelschicht hinweghebt, die über einer Thaltiefe gelegen, und die volle Einsicht frei giebt in dieselbe – so kehrte dem Alten mit Einer Secunde Leben, Gefühl und Bewußtsein zurück. Die Seele war klar, damit kam wieder Licht in das Auge und in die Kehle der Ton…

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_770.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)