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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

ihre eigenen Zauber und Geheimnisse; jenen frohmüthig sich hinzugeben, diesen mit offenen Sinnen fragend und forschend nachzugehen, darin liegt der unendliche Reiz eines Sommeraufenthalts in Combe-Varin, dessen freundlicher und geehrter Wirth, wenn uns der Räthsel zu viele entgegentreten, es gern übernimmt, uns der unerwarteten Auflösung nahe zu führen.

Ehemals ein Jagdhaus adeliger Familien, verräth das Hauptgebäude dieses Landsitzes noch heute seinen ursprünglichen Zweck in den zahlreichen alten Kupferstichen, welche die Wände des Hausflurs schmücken und sich sämmtlich auf das edle Waidwerk beziehen. Anspruchslos und nach der Landessitte nur durch seine Thurmknöpfe auf dem Dache als ein Herrenhaus bezeichnet, erscheint das Gebäude auf den ersten Blick als zu kurzem Landaufenthalt bestimmt, und deshalb hat sein jetziger Eigenthümer ihm diesen bescheidenen Charakter gelassen und auch den von ihm herrührenden Anbau ohne jeglichen Luxus aufgerichtet. Wer unter diesem einfachen Dache einkehrt, soll jeden Anspruch auf conventionellen Glanz von sich werfen. Behagliche Ruhe, ein anregendes Gespräch in gleichgestimmter, heiterer Gesellschaft, ein vortreffliches Mahl, ein gesunder Spaziergang in Wald und Wiese – wer von einem Sommeraufenthalt auf dem Lande etwas Anderes verlangt, der scheint uns der rechten Lebensweisheit noch zu entbehren.

Combe-Varin hat unter seinem jetzigen Besitzer viele edle Häupter beherbergt, echte Ritter vom Geiste, und wer die Namen liest, welche zur Erinnerung an die Gäste die Bäume zieren, die uns in langer Reihe nach dem Wohnhause hin geleiten, der kann sich einer freudigen und stolzen Erregung nicht erwehren, von so auserlesener Gesellschaft, die sich gleichsam in Spalier hier aufgestellt, begrüßt zu werden. Da winken uns von den markigen Stämmen, den Säulen einer lebendigen Ehrenhalle, Namen von bestem Klange entgegen: die deutschen Gelehrten Liebig, Virchow, Vogt, Eisenlohr, Schönbein, Dove, Wöhler, Moleschott; die Schweizer Studer und Escher von der Linth; die Franzosen Martins und Lehon; die Italiener Godzadini, Capellini und der liebenswürdige Abbate Stoppani; die Amerikaner Lessly und Lyman; der Engländer Ramsey, und viele andere von gleich guter Währung.

Hier und da mahnt uns ein Kreuz bei dem Namen des Gastes, daß dieser den letzten Tribut der Natur gezollt, welcher er sein Leben lang ein treuer Knecht gewesen. Da steht ein solches unter dem Namen Greßly’s, des wunderlichsten und krausbärtigsten aller Originale; dort ein Kreuz auf einer mächtigen, greisen Tanne, die an einsamer Stelle ihre breiten Aeste tief niederbeugt zur schattigen Erde, über dem Kreuz der Name Theodor Parker, des großen nordamerikanischen Reformators.

Unter diesem so eigen gestalteten, ernsten, einsam wurzelnden Baume hat er so oft geruht, der fremde, selbst so eigenartige Denker, und über der Menschheit weiten und oft so zerklüfteten Bildungsweg gesonnen. Sehnsüchtig blickte er wohl oft genug der Sonne nach, wenn sie im Western hinter den Bergen verschwand um drüben, jenseits des Oceans, seine ferne Heimath mit dem glühenden Morgenroth zu begrüßen. Und mit den goldenen Strahlen schweiften die Gedanken hinüber, die beredten Wanderer, und brachten einen warmen Morgengruß dem Vaterlande, den geliebten, verständnißvollen Freunden. Ob er es wohl ahnte, daß er sie nicht mehr wiedersehen sollte?

Er war ein seltener, vollgemünzter Geist, ein ganzer Mann aus dem Stoffe gebildet, wie ihn patriarchalische Zeiten einst zu Propheten gebraucht: klar, sittenrein, unbeugsam und doch ganz Aufopferung, ganz Liebe; furchtlos gegen jeden Widersacher, die Beredsamkeit seine einzige, aber unwiderstehliche Waffe, mit welcher er die Gegner verstummen machte, die Freunde fesselte; gehorsam den Gesetzen der Republik, unerschrocken gegenüber dem Gesetzgeber, unermüdlich im Kampfe für die Freiheit in des Wortes humanster und vollster Bedeutung, so war Theodor Parker.

Im Rücken des Hauptgebäudes und des daran sich schließenden Pachthofes erhebt sich ein prächtiger Wald, der allgemeine Zufluchtsort in heißen Sommertagen. Hier traf ich einmal bei einem meiner Besuche auf Combe-Varin Karl Vogt mit Pinsel und Palette gegenüber einem riesenhaften Wurzelstock, den er sich zu seinen Malerstudien ausersehen. Karl Mayer von Eßlingen lag neben ihm auf dem weichen Moose und erzählte seine tragischen Erlebnisse als Redacteur des Stuttgarter „Beobachters“ mit so heiterer Laune, daß es weithin durch den Forst von schallendem Gelächter widertönte. Da hörte ich auch eine Geschichte, welche einem anderen Gaste von Combe-Varin, dem berühmten Erfinder der Schießbaumwolle und Entdecker des Ozons, dem Professor Schönbein, begegnet war.

Er hatte mit Desor und mehreren anderen Freunden einen Ausflug an den Doubs gemacht, dessen malerisches Felsenbett anderthalb Stunden oberhalb des bekannten Uhrenortes Le Locle die Schweiz von Frankreich trennt. Schönbein hatte sich an das jenseitige Ufer begeben und sich daselbst in ein Gespräch mit einem Menschen eingelassen, den er auf dem Felde beschäftigt sah. Es war zur Zeit, als Savoyen eben dem französischen Kaiserreich einverleibt worden, und die Unterhaltung richtete sich sofort auf diese brennende Tagesfrage. Der Fremde sagte mit dem selbstbewußten Tone eines Mannes, welcher der grande nation angehört, und auf das schweizerische Ufer hindeutend: „Vous serez bientôt annexés comme les autres“ (Sie werden bald annectirt werden wie die Andern.) Darüber gerieth nun Schönbein in einen heiligen Zorn, denn der Basler Professor war wenige Jahre vorher Schweizerbürger geworden und schwärmte für sein neues Vaterland. Seine Entrüstung gegen den hochmüthigen, annexionslustigen Franzosen giebt sich denn auch in heftigen Worten kund; sein Gegner erhitzt sich gleichermaßen, der Streit wird lauter und lauter und zieht endlich die Freunde herbei, in erster Reihe Desor. Zwei Worte aus dem Munde des Unbekannten verrathen seinem französischen Ohr, daß er es hier mit keinem echten Gallier zu thun habe. „Wo sind Sie denn eigentlich zu Hause, mein lieber Freund?“ redet er ihn auf gut Deutsch an.

„Aus Mitzingen!“ klingt die Antwort ein wenig kleinlaut.

„So geben Sie nur Ihrem Widersacher die Hand, er ist ja auch dort zu Hause!“

Zwei Schwaben, die sich als Franzose und Schweizer gegenseitig annectiren wollen – ist das nicht auch ein Bild deutscher Gemüthlichkeit?

Wenn man den Wald von Combe-Varin mit seinen herrlichen Riesentannen aufwärts steigt, deren Stämme die Segel des stolzesten Dreimasters tragen könnten, gelangt man an einen Aussichtspunkt, der uns stundenlang durch seine wunderbare Schönheit zu fesseln vermag. Wir stehen am Rande eines furchtbaren Abgrundes, dessen steile und zerrissene Wandung sich wohl eine halbe Stunde weit von Osten nach Westen hinzieht. Auf einem der Felsenvorsprünge erhebt sich ein einfacher Pavillon, unter dessen Dach die Besucher sich oft des Abends zusammenfinden. Von hier aus schweifen ihre Blicke mit Vorliebe gen Westen hinüber nach dem oberen Val de Travers. Schimmernde Streifen, die da und dort aus dem grünen Gelände hervorleuchten, verrathen uns den Lauf der Areuse, an deren Ufern, da das Thal bedeutend tiefer liegt, als das von Ponts, sich fruchtbare Aecker hinziehen. Schmucke Städtchen weisen uns ihre rothen Ziegeldächer und schlanken Kirchthürme. Diese zahlreichen Ortschaften waren im vorigen Jahrhundert armselige Dörfer, jetzt zählen sie große Geschäftshäuser, die mit reichen Comptoirs in Hongkong in Kanton und Schanghai glänzen und für den bezopften Mongolen die Uhren paarweise liefern, denn der schlaue Chinese kauft sich für seine zwei Westentaschen ein Paar Uhren, die sich gegenseitig controlliren müssen. In diesem Thale ist auch das Centrum der Absynth-Fabrikation, jenes besonders in Frankreich und im südlichen Europa viel verbreiteten Liqueurs, der im Uebermaß getrunken, Gehirnerweichung und andere liebliche Krankheiten herbeiführt.

Aber auch Namen von bedeutenden Männern knüpfen sich an dieses wundervolle Thal. Dort drüben in Motiers erblickte Vattel, der berühmte Verfasser der Lehre vom Völkerrecht, das Licht der Welt; hier unten im Schlosse zu Travers – fast das einzige Gebäude, welches dem letztjährigen Brande entgangen – schrieb Jean Jacques Rousseau seine „Briefe aus dem Gebirge“, eines seiner schärfsten Manifeste gegen die Finsterlinge der dogmatischen Theologie.

An den Pavillon, von welchem aus wir so eben Rundschau gehalten, knüpft sich leider auch eine tragische Erinnerung. Zahlreiche Gäste hatten sich im Sommer 1859 in Combe-Varin versammelt, mehrere derselben waren von ihren Frauen begleitet und diese gestalteten den Aufenthalt unter dem gastlichen Dache

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_762.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)