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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

und wie er daher wankt – der geht nicht irr, wenn er sich bald selber um ein Plätzel umsieht!“

Die Bemerkungen der beiden Alten waren wohl begründet, und wer den hinfälligen Mann betrachtete, der sich an das Eisengitter lehnte, um die müden schmerzenden Beine ein wenig ausruhen zu lassen, der hätte wohl Mühe gehabt, in ihm den rüstigen Meister Staudinger zu erkennen, der noch vor wenigen Wochen so kerngesund da gestanden war, wie ein Baum im Holz. Aber wie bei einem Baum hatte eine einzige Nacht hingereicht, mit ihrem Reif das Laub zu verbrennen, daß er am Morgen da stand mit rothen welken Blättern statt der grünen und daß es nur eines leisen Hauches bedurfte, sie vollends fallen zu machen. Das war die Nacht gewesen mit dem Haberfeld. In seiner sorglos übermüthigen Behaglichkeit hatte ihn der Lärm im warmen Bett und im tiefen Schlaf überrascht; das Entsetzen hatte ihn plötzlich emporgeschüttelt, die Angst hatte ihn schlecht verwahrt hinausgejagt in die kalte, windige Nacht, er fürchtete, die Rächer würden sich nicht begnügen, ihn nur verhöhnt und gerügt zu haben; er sah sie schon gegen das Haus andringen, er hörte in seiner Verwirrung schon die einstürzende Thür krachen und entfloh. Seitdem war es mit unsäglichen Leiden über ihn gekommen, der Schrecken und die Erkältung waren ihm in die Glieder gefahren, daß er sich in wenigen Tagen zum Schatten abquälte, gefoltert von den wüthendsten Schmerzen und noch mehr von innerm Grimm über das ihm Widerfahrene und dem Gefühl seiner Ohnmacht, sich dafür hinwieder Vergeltung zu verschaffen und Rache. Mit der Kraft des Körpers brach, wie er dagegen auch ankämpfen mochte, nach und nach der starre Trotz seines Gemüthes, wie der Schnee weich und mürbe wird, noch lange ehe es der Frühlingssonne gelingt, ihn zu schmelzen. So sehr er sich immer hinter die Wolken seines Zornes barg, er konnte nicht verhindern, daß auf einen Augenblick der Himmel hell ward über ihm, und wenn er sonst auf seinem Schmerzenslager von den Unternehmungen träumte, die er noch auszuführen gedachte, wenn er unter Flüchen und Verwünschungen den Frühling herbeisehnte, um in einem heißen Bade Heilung zu finden, so waren es diese Augenblicke, die ihn zwangen, wider Willen in die Jahre zurück zu schauen, die hinter ihm lagen, die er lang in sich vergraben zu haben meinte und deren Erinnerungen doch immer wieder an ihm emporwuchsen, wie Dornranken aus dem Schutt eines eingestürzten Gebäudes.

Unverwandt und mit der Geberde wartender Ungeduld blickte er jetzt in das zum Seiteneingang führende Gäßchen hinaus; er achtete nicht auf die eiligen Schritte, die, von den gewölbten Säulengängen des Kirchhofs herkommend, hinter ihm laut wurden. Ein Mädchen, in der Tracht des Oberlandes, kam rasch den Hauptweg herab, ein kleines Bündel und den Regenschirm tragend, der nicht leicht in der Hand des die Stadt besuchenden Bergbewohners fehlt.

Es war Franzi – sie war unverändert, ja, über das anmuthige Gesicht lag sogar eine höhere Röthe gebreitet, wie der Widerschein einer freudigen und doch nicht schmerzfreien Erregung, fest und klar war ihr suchendes Auge auf das halb verwahrloste Gräbergefild gerichtet. Ein Mann in schlechter Jacke, mit einem groben Schutz darüber, einen farblos gewordenen löcherigen Filzdeckel auf dem grauen Kopfe und über der Schulter die Grabschaufel, schritt gemessenen Ganges hinter ihr her.

„Wenn Du noch so laufst, Madel,“ sagte er gutmüthig, „Du findest Dich ohne mich doch nicht zurecht und mußt warten, bis ich nachkomm’ … ist es Dir denn gar so eilig?“

Ohne den Blick von dem Ziele ihrer Sehnsucht abzuwenden, stand sie still; jetzt trat der Todtengräber an ihre Seite. „Da sind wir,“ sagte er und schritt, die niedrige Einfassung übersteigend, zwischen die Hügel hinein. „Dritte Section … vierte Reihe … das fünfzehnte Grab … hier, der kleine Hügel muß es sein…“

Er deutete auf eine unscheinbare, aus grobem Kies und Erde unregelmäßig aufgeschüttete, von der Zeit fast wieder eingeebnete Erhöhung, kümmerliche Grashalme hatten darauf Wurzel gefaßt, einige lange bärtige Schmeelen hingen vergilbt und geknickt darüber – eine einzige blaue Scabiose, deren Samen vielleicht ein in den Rosenbüschen der Gräber nistender Vogel verstreut haben mochte, wiegte wie schlaftrunken ihr einsames Haupt.

Mit beiden Knieen zugleich, wie von höherer Gewalt gebeugt, sank Franzi zu Boden; sie sprach nicht, sie weinte nicht, sie hielt nur die Hände vor sich hin und faßte dann, sich niederbeugend, in Gestein und Erde, als wolle sie selbe an ihre Brust drücken.

„Was treibst, Madel?“ sagte der Todtengräber. „Wann Du das Grab willst aufgerichtet haben, mit den Händen wird’s kaum geh’n…“ Franzi blieb stumm und unbeweglich; er unterbrach sie nicht mehr, er mochte erst gewahr geworden sein, in welch’ tiefer Erschütterung sich das Mädchen befand; er hatte Herz genug, sie eine Weile gewähren zu lassen und nicht mehr zu stören – Franzi’s wortloses Selbstgespräch war nur dem verständlich, an den es gerichtet war.

„Laß’ es jetzt gut sein, Madel,“ begann der Mann nach einiger Zeit wieder, „tröst’ Dich halt und denk’, was die Erden einmal hat, das giebt sie nit wieder her. Sag’ lieber, was Du haben willst, daß jetzt geschieht … willst haben, daß das Grab aufgerichtet werden soll und verziert?“

„Ja, ja,“ erwiderte Franzi, indem sie sich besann und fast gewaltsam erhob, „das Grab soll aufgerichtet werden und verziert, so schön als es nur sein kann… Ich bin fremd in der Stadt, Todtengräber, wollt Ihr’s wohl besorgen und mir sagen, wo man bekommt, was wir brauchen, ich will’s bezahlen, ich habe Geld … es ist mir nicht zu viel…“

„Laß’ stecken, Madel,“ sagte der Todtengräber, indem er mit gutmüthigem Schmunzeln zusah, wie Franzi ein rothes, an den vier Enden zusammengeknüpftes Sacktuch hervorzog und den reichlichen Inhalt an Silbermünze zeigte, „ich hab’ schon geseh’n, daß Du Geld hast, drinnen beim Leichenaufseher, sonst hättest Du auch das Grab nicht gekauft! Bist gerad’ noch recht gekommen vor Thorschluß; in ein paar Tagen sind die fünfzehn Jahren herum, denn immer nach fünfzehn Jahren wird eine Abtheilung umgekehrt und neue Gräber gemacht…“

„Aber jetzt ist es mein?“ rief Franzi hastig. „Jetzt wird das Grab nit angerührt?“

„Nicht mit einem kleinen Finger, jetzt ist das Grab Dein, Madel, hast es ja theuer genug bezahlt, jetzt bist Du der Herr davon auf die nächsten fünfzehn Jahr’, und kein Mensch kann Dir etwas einreden…“

„Recht, recht,“ entgegnete Franzi, „jetzt führt mich hin, wo wir die Sachen zum Verzieren kaufen können, und ein schönes Kreuz möcht’ ich auch haben, von Eisen und mit einem vergoldeten Christus dran und mit einer schönen Inschrift, da muß drauf steh’n von der Auferstehung und vom Wiederseh’n in der Ewigkeit…“

„Das ist Alles zu haben für Geld und gute Wort’,“ sagte der Todtengräber, „komm’ nur, Madel, ich zeig’ Dir Alles; mir gefallt’s, daß Du Deine Todten so gern hast und Deine Sparkreuzer so hergiebst, ihnen zu Ehren! Wer liegt denn eigentlich in dem Grab? Hast gewiß einen Schatz gehabt, der hat Soldat werden müssen und ist nimmer heim ’kommen… Ja, ja, die Stadt nimmt gar Manchen mit, und oft gerade die schönsten Burschen und die kräftigsten…“

So plaudernd schritt er voran und gewahrte nicht, daß Franzi ihm nicht folgte und ihn nicht vernahm – den beiden Grabhüterinnen war ihre Freigebigkeit ebensowenig entgangen wie das wohlgefüllte Sacktüchlein, sie wollten die gute Gelegenheit zu einem Nebenverdienstchen nicht versäumen.

„Will die Jungfer nicht auch das Grab gehütet haben?“ sagte Frau Schärdinger, indem sie ihr entgegen traten. „Laß sie einer armen Wittib den Verdienst zukommen – wir thun’s billig – wir zwei miteinander, weil wir doch gerad’ so in der Nähe sind…“

„Und beten thun wir auch, so fleißig wie irgend wer,“ sagte die Andre, „da darf man uns nachfragen!“

Franzi sah Beide etwas verwundert an, unbekannt mit dem Gebrauche der großen Stadt, verstand sie den ihr gemachten Antrag nicht völlig. Sie griff in ihr Tüchelchen, drückte jeder ein Geldstück in die Hand und sagte, dem Todtengräber nacheilend: „Ich dank’ schön für die gute Meinung, liebe Frauen – nehmt’s das und wann Ihr in Eurem Gebet mich einschließen wollt, will ich’s Euch verdanken, aber das Grab da hüten und an dem Grab beten – das ist ein Geschäft, auf das ich mich schon manches Jahr gefreut hab’ – das Geschäft besorg’ ich selber…“

Sie ging, die Weiber sahen ihr brummend nach. „Das muß auch eine rechte Siebengescheidte sein und eine Zuwiderwurzen dazu!“ rief die Eine. „Das Geschäft besorg’ ich selber! Und was sie für ein Gesicht dazu gemacht hat, als wenn sie weiß Gott

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_722.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)