Seite:Die Gartenlaube (1867) 707.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

bleiben… Mach’ nur, daß Du fort kommst, eh’s zu spät wird…“

„Und Du bist es nochmal, die mich retten will!“ rief er schmerzlich ergriffen, „Du, Franzi, jetzt und heut’ und nach all’ dem, was ich Dir angethan hab’?“

„Sei nit hart drüber, Sixt,“ antwortete sie hastig, „aber ich thu’s nit Deinetwegen, ich will Dir auch gewiß nimmermehr in’n Weg kommen … ich thu’s nur, weil ich an Dein’ Vater denk’ und an Dein’ Mutter und an alles Liebe und Gute, was sie mir angethan haben … aber nur fort … fort…“

„Nein, ich gehe nit,“ sagte er in trotziger Aufwallung.

„So bleib!“ rief sie schmerzlich erregt. „Bleib’ und laß Dich fangen! Mach’, daß sie Dich finden, daß sie in Dir den Habermeister erkennen; in Dir … dem Aichbauern Sixt, auf den Alles mit Respect hing’schaut hat, der so stolz gewesen ist auf seinen unbescholtenen Leumund und Namen! Laß Dich in Ketten und Banden legen, wie einen Verbrecher, laß Dir den Proceß machen, wie einem solchen, und eine schwere, schwere Straf’ anthun, daß Deine braven Eltern sich vor Schand’ und Spott und Herzleid noch im Grab’ umkehren möchten…“

Einen Moment schwankte er noch; durchdringend, mit unbeschreiblichem Ausdruck, hing sein brennendes Auge an den Zügen des Mädchens; dann ergriff er rasch und fest dessen Hand, schüttelte sie und war im nächsten Augenblick hinter dem Gebüsch verschwunden.

Es war die höchste Zeit gewesen, unmittelbar darnach schlossen die Verfolger ihre Kette auch nach dieser Richtung ab.

Franzi kniete neben Waldhauser nieder, dessen tiefe, schmerzliche Athemzüge erkennen ließen, daß der Nebel der Bewußtlosigkeit noch einmal von seinen Sinnen zu weichen begann. Die Kugel war ihm an der Schläfe in den Schädel gedrungen und hatte die Augen zerstört, es war keine Hülfe, keine Hoffnung mehr für ihn. Der Unselige hatte dem Vergnügen, seine Rache voll gesättigt zu wissen, nicht zu widerstehen vermocht, hatte sich heimlich unter die Haberer an der Kreuzstraße gemengt und dann im Uebermuthe auch den übrigen Zug mitgemacht; als einen der Ersten, welche entflohen, hatte die Vergeltung ihn selber ereilt.

„Sixt …“ lallte er, zu sich kommend, „wo bist Du? Hast Du mich auch verlassen, Bruder?“

„Ich bin statt seiner da,“ sagte Franzi leise und sanft, aber so weich der Ton geklungen, wirkte er doch auf den Verwundeten, als hätte er den Posaunenruf des Weltgerichts vernommen. Entsetzt, von Krämpfen geschüttelt, wollte er sich aufrichten, aber er vermochte es nicht mehr, er fuhr nach dem Gesicht, als wolle er seine Sehkraft unterstützen, allein die vernichteten Augensterne gehorchten nicht mehr. „Wer?“ rief er beinahe kreischend. „… Franzi … Du? … O, mein Herr und Heiland … was für Schmerzen! Sterben … ich muß sterben, und Du … Du bist die Einzige, die bei mir bleibt…“

„Warum sollt’ ich nit? Aber sei nur gelassen, ich will sorgen, daß ich Dich wegbringen kann…“

„Zu spät!“ stöhnte er. „Aus ist’s mit mir … Alles aus. … Ich muß sterben, jetzt weiß ich’s gewiß… O ewige Gerechtigkeit … die Bürgschaft, die Bürgschaft! Geh’ von mir, Franzi, laß mich allein, Du weißt nit, was ich Dir gethan hab’…“

„Sorg’ nit um mich,“ sagte sie beruhigend, „wenn Du Dich so schlecht fühlst, denk’ an Dich selber und an Deine arme Seel’! … Bet’, Waldhauser, bet’!“

„Beten …“ rief er in undeutlichem Gemurmel… „Ja, ja, beten … ich hab’ ja viel gebetet in meinem Leben … und manchmal ist es mir Ernst gewesen damit! Und jetzt – jetzt … O du gekreuzigter Heiland…“

Er stockte; ein Gefäß in dem zerschmetterten Kopfe war nachgeborsten, eine abwärts dringende starke Blutung erstickte ihn.

Eine Weile blieb Franzi noch neben ihm knieen und betete leise. „Er hat’s überstanden …“ sagte sie dann, sich erhebend, „er braucht Niemand mehr auf dieser Welt… Ich kann auch fort; es wäre das Gescheidteste, wenn sie Niemand bei ihm finden, da hätt alles Fragen ein End’…“ Sie bückte sich, hob aus dem Grase einen abgefallenen dürren Ast auf, brach ihn in zwei ungleiche Theile und knüpfte diese in Kreuzesform übereinander … dann legte sie dem Todten die Arme auf der Brust zusammen und gab ihm das Kreuz in die Hände. „Er ist mit sein’ Namen hinüber in die Ewigkeit, unser Herrgott wird’s gnädig machen mit ihm!“

Sie huschte hinweg.

Das Gericht fand außer zerstreuten Kleiderfetzen und Waffenstücken nichts als einen verstümmelten blutigen Leichnam.

„Verwünscht!“ murrte der Amtmann und stampfte vor Entrüstung. „Eine so kostbare Gelegenheit und vergebens! Ich hatte so bestimmt darauf gerechnet, den Rädelsführer in meine Macht zu bekommen … aber immerhin, mein Verdacht trügt mich nicht, ich weiß, wo der Kopf des Wurmes sitzt, und will nicht ermüden, bis er zertreten ist!“


5.

Die Sonne eines der letzten Octobertage stand schon hoch gegen Mittag über dem Wirthshause an der Kreuzstraße, aber auf den kurzen, vergilbten Grashalmen, wie an den morsch werdenden grauen Stoppeln hing starker, weißschimmernder Reif und nur an der östlichen Seite, wo die Sonnenstrahlen schon länger zu wirken vermocht hatten, begann er zu schmelzen und von den dunklen Tannenästen in leuchtenden Tropfen nieder zu thauen. Der Himmel wölbte sich darüber in herbstlich klarer und völlig ungetrübter Bläue, denn ein scharfer Ostwind ließ nicht ab, jedes Federchen oder Flöckchen von Dunst, das sich etwa zur Wolke gestalten wollte, hinweg zu fegen und zu blasen, wie Stäubchen von einer Glasglocke. Gegen die Straßenkreuzung hin, wo der durchhauene Wald eine Lücke frei ließ, ragte ein Ausschnitt eines mächtigen Gebirgsrückens herein, weit in einen glitzernden Schneemantel gehüllt, dessen blaue Schatten wie Falten eines königlichen Gewandes die Umhüllung noch prächtiger und reicher herniederwallen ließen. Der Spätherbst hatte ernsthaft angeklopft und ließ erwarten, daß ein strenger Winter ihm rasch in die Fußstapfen treten werde.

Trotzdem war es an der Kreuzstraße wieder lebendig und bewegt, denn die günstige Lage machte das geräumige Gasthaus so recht zum Versammlungsorte der umwohnenden bäuerlichen Bevölkerung geeignet; die nach vier Richtungen auseinander laufenden oder von ihnen herführenden bequemen Straßen machten den Verkehr kurz und leicht und bildeten in ihrer Kreuzung eine Art Mittelpunkt, welcher von vielen rings umher gelegenen Weilern und Ortschaften unschwer zu erreichen war, ohne daß den Bewohnern des einen zugemuthet werden mußte, einen weiteren Weg zu machen, als die eines andern zu machen hatten. Die Gesellschaft war aber diesmal im Hause versammelt; in der großen Zechstube drängte sich’s wie in einem Ameisenhaufen und summte wie in einem Bienenkorbe, der sich zu schwärmen bereit macht.

Nur ein Einziger zog es vor, trotz der empfindlichen Kühle lieber im Freien zu verweilen, als den Dampf der qualmenden Stube einzuathmen; das war der Lehrer von Osterbrunn. Gemächlich schritt er die Zaunhecke des Gartens entlang, musterte die Kronen der darüber emporragenden Apfelstämme und der vielen darunter niedriger aufstrebenden Zwetschenbäume und sah es mit Bedauern, wie viele Fruchttriebe an den erstern vom Frost verkümmert waren und wie sehr die letztern einer sorgenden Hand bedurft hätten, sie von dem überwuchernden grünen Moose und den breiten grauen Flechtenblättern zu befreien. So kam er zu der Ecke neben den Stufen des Eingangs, wo es sonnenwarm war und windstill zugleich; er ließ sich seinen Krug herausbringen, zündete die Pfeife an und sah dem Ringeln der Rauchwölkchen zu, welche in der reinen Herbstluft aufwirbelten, um zu verflattern, und so vergnügt sein Antlitz vorerst dabei geschienen, so düster ward es allgemach, denn in das Behagen an den Ringen und andern krausen Gestalten des Rauches drängte sich gar bald die Betrachtung ihrer Vergänglichkeit und es war nahe daran, daß darüber die Pfeife völlig ausging.

Gruß und Zuruf weckten ihn aus dieser nachdenklichen Stimmung; der alte Bauer mit dem weißen Schnauzbart mochte nach seinen Gäulen gesehen haben und kam vom Stalle herangegangen. „Grüß Gott, Herr Lehrer,“ rief er ihm zu, „laßt Ihr Euch auch einmal wieder sehen? Und ist es Euch nicht zu kalt im Freien?“

„Ich hab’ noch einen Gang durch’s Gau gemacht,“ erwiderte der Lehrer, „in ein paar Tagen fangt das Schulhalten wieder an – d’rum wollt’ ich zuvor noch einmal alle Gärten beseh’n und die Bäume d’rinnen, an denen mir was gelegen ist oder wo der Herr einen guten Rath annehmen will: es giebt gar viel’ Stämmchen, die man vor der Kälte einbinden oder ein Geheg von Dornhecken

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 707. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_707.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)