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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Gattungen von Muschelthieren und Meeresschnecken und Shrimps, (ganz kleine Krabben) die zugleich auch von unzähligen Karren auf der Straße feilgeboten und zum Theil sofort gegessen werden; Sprotten, welche in Deutschland hier und da geräuchert als Delicatessen auf dem Theetische oder zum Rothwein erscheinen, werden hier frisch und silberweiß glänzend haufenweise in die schadhaftesten Körbe der zotteligsten Proletarierweiber geschaufelt, und ohne Shrimps trinken auch diese Käufer und Kunden dieses Lumpenmarktes selten ihren Thee. Daß sie immer Weißbrod – oder wenigstens ein sogenanntes Braunbrod (brown bread) – dazu essen, versteht sich von selbst, denn unser deutsches Schwarzbrod wird in London immer nur noch von einzelnen deutschen Bäckern als Rarität an deutsche Landsleute verkauft.

Schon mitten im Winter kommen ganze Flotten beladen mit Apfelsinen an und geben Monate lang selbst den engsten und schmutzigsten Straßen ein appetitlich goldgeflecktes Ansehen. Der gewöhnliche Preis, wofür sie auf allen Straßen aus Karren und Körben lustiger, schmutziger Irländer und Irländerinnen ausgeschrieen werden, ist: zwei für einen Penny, doch kann man auch leicht drei und vier für zehn Pfennige erhandeln. Diese und viele andere Lebens- und Genußmittel drängen sich hier auch auf dem ärmsten Sonntagsmarkte des Unterrocks-Gäßchens (Petticoat-Lane) so massenweise und wohlfeil durch die dichte Menge, daß sie uns beinahe umsonst in die Tasche fallen oder nach dem Mund emporschwellen. Alle diese Herrlichkeiten sind feil für die niedrigsten Kupfermünzen, und auch wer keinen Farthing (¼ Penny) mehr hat, weiß sich durch Diebslist oder durch Geschicklichkeit von den fallenden Schätzen mehr anzueignen, als sich manchmal der reichste Eigenthümer in unseren kleinen Städten und Dörfern für schweres Geld erkaufen kann. Die ganz verstoßene und pennylose Jugend frißt sich hier mit durch, wie die Sperlinge unter den Hühnern. Manchmal hackt wohl ein neidisches Huhn nach einem solchen umherhüpfenden Spatze, aber er ist viel zu pfiffig und gewandt, als daß er sich treffen ließe. Ebenso gelingt es diesen barfüßigen Jungen, beim heimlichen oder offenen Stibitzen der Rache des Bestohlenen oder dem Arme des Policeman unter den Armen und Beinen der dichten Menge hinweg zu entwischen und lächelnd, siegreich und zu neuen Angriffen bereit an der nächsten offenen Stelle wieder emporzutauchen.

Wir sind hiermit aus dem Kleider-Bazar unvermerkt durch einige enge Straßengewinde in der Hauptader dieses vom Gesetze verpönten, aber praktisch blühenden Sonntagsmarkt-Verkehrs in Petticoat-Lane angekommen. Die Wege dahin und die verschiedenen aus- und einmündenden Nebenstraßen sehen einander ziemlich ähnlich und sind mehr oder weniger von derselben Menge, demselben Marktverkehr angeschwollen, nur daß in dieser Gasse sich Alles noch dramatischer und dichter drängt und alle Arten des Kaufs und Verkaufs am leidenschaftlichsten getrieben werden. Es ist schwer, in diesem ewigen Gedränge und Geschiebe von Irländern und Juden, von Arbeitern und Proletariern jedes Geschlechts und Alters, von Waaren, Producten und Menschen aus allen Theilen der Erde dies oder jenes Augenblicksbild festzuhalten; aber einige Scenen und Gestalten prägten sich mir sofort so ein, daß sie mir stets unvergeßlich bleiben werden.

Mitten aus den in der Mitte der Straße aufgehäuften Verkaufsartikeln aller erdenklichen Art und zwischen den wandernden persönlichen Buden, die unter unaufhörlichem Geschrei ihre Schätze im dicksten Gedränge anzubringen suchen, ragte sitzend ein offenbar menschliches und sogar weibliches Wesen strickend hervor; die Früchte ihrer Arbeit lagen auf ihrem Schooße ausgebreitet. Die ganze Gestalt hatte in Gesicht und Kleidern nur eine einzige schmutzig braune Farbe. Wo andere Menschen ihre Backen haben, häuften sich eine Menge Spuren von Stößen und Schlägen, Mißhandlungen und Entbehrungen aller Art. Von einer Stirn war wenig, von Augen gar nichts zu sehen; letztere lagen tief in großen Höhlen verborgen wie in dem Kopfe eines Skelets. Auf einer Seite des Kopfes flogen einige dünne, graue Haare im Winde hin und her, auf der andern hingen die letzten Spuren eines Hutes herunter. So saß sie da und strickte eifrig mit ihren knöchernen Händen und hörte blos auf, um dann und wann ein Paar Kindersocken, ihr eigenes Werk, zu einem Penny zu verkaufen. Ein Paar gestrickte Kindersocken, neu und weiß, für zehn Pfennige! Und davon lebte die Ruine eines ehemaligen Weibes, offenbar auf eine ehrliche Weise, und verdiente sich damit sicherlich einen Ehrenplatz unter den Heldinnen der Armuth und des Elends.

Nicht weit von ihr stach die eigentliche Schönheit von Petticoat Lane als Beherrscherin und Verkäuferin eines mitten auf der Straße aufgestapelten Haufens weiblicher Kleidungsstücke hervor und wußte durch ihre ziemlich anmuthige Koketterie durch ihr lachendes, fröhliches Gesicht unter dem à l’Impératrice aufgekämmten Haar selbst ärmste Männer herbeizulocken und zu ungewöhnlicher Freigebigkeit für ihre Frauen oder Töchter zu verleiten. Wie kam diese Schönheit unter die verwitterten, vertrockneten, gedunsenen und nicht selten verhauenen Gesichter, die sich hier in der engen, schmutzklebrigen, pestilenzialen Straße drängten? Konnte sie hier aufgewachsen sein und dieses Gesicht entwickelt, conservirt haben? Sehr wahrscheinlich, denn unter der Jugend und namentlich unter den Kindern leuchteten lachend und lustig manche frische und volle Gesichter aus dem ziemlich stark aufgetragenen Schmutze hervor, wie ich sie ebenfalls nicht selten aus den elendesten Kellern anderer Armuths- und Elendsstraßen hervorlachen gesehen habe. Dies hat mich schon zu der Annahme verleitet, daß manche Menschen wie gewisse Thiere und Blumen (letztere fand ich oft in schönster Blüthe feilgeboten oder in den Fenstern der elendesten Dachkammern und Keller) durchaus nicht der gesunden Luft und des himmlischen Segens der Sonne zu ihrem Gedeihen bedürfen. Rechts, an der Wand des sieben Stockwerke hohen Palastes, aus welchem heraus die angenehmsten Düfte die verpestete Luft dieses Sonntagsmarktes durchwürzten (es ist das Theewarenlager der ostindischen Compagnie), zeigte sich eine grimmige Figur, welche zu dem furchtbaren Räuberdrama in dem benachbarten großen City-Theater einlud. Der lebensgroß angeklebte Räuber blickte stolz auf die Irländer herab, die sich aus den großen Vorräthen von sehr alten, aber bestechend überklebten, geflickten und gewichsten Stiefeln und Schuhen für ihre strumpflosen, schmutzigen Beine drei-, viermal neu aufgelegte Kunstwerke Crispin’s aussuchten und anpaßten. Zu den sonntagsstaatlichen Füßen gehört auch eine neue oder verjüngte Kopfbedeckung. Deshalb blühte just mitten in der Straße ein lebhafter Handel mit Mützen und Hüten aus einem großen Kasten heraus, für welchen ein furchtbar schreiendes Individuum unter einem riesigen, breitkrempigen Papphute hervor einen hohen Adel und bürgerliches Publicum als Kunden einlud, während der Eigenthümer dieser Schätze einem erwischten Käufer die ihm aufgedrungene Mütze durch ein vorgehaltenes Stück Spiegelglas als die vortrefflichste Verschönerung seines Kopfes darzustellen suchte. Das wandernde Kreuz dahinter war mit Hosenträgern behangen. Etwas weiter links machte ein riesiger Kerl mit einer großen, gläsernen Schüssel auf dem Kopfe aus der rechten Hand eine Art Sprachrohr, um seine Gurken, ununterbrochen schreiend, über Tausende von anderen Schreiern hinweg, anzupreisen. Ihn übertrafen mit ihren kreischenden Stimmen noch die fanatischen Kleiderjuden auf der linken Seite des Hintergrundes, welche aus ihren großen Vorräthen von allerhand zusammengeschacherten, zurechtgeflickten und aufgebügelten Bekleidungsstücken immer eines nach dem anderen hoch in die Luft schleuderten und die Qualität und Billigkeit derselben mit den feurigsten Zungen ausposaunten, während die Leute zum Theil meuchlings angefallen werden, um sich mit Gewalt eines nach dem anderen anprobiren zu lassen, so daß man sich manchmal gar tapfer wehren mußte, um der Scylla eines solchen Geschäftes zu entgehen, worauf man freilich auch nicht selten in die benachbarte Charybdis eines noch viel fanatischeren mosaischen Mannes fiel. Kauft man auch keinen Rock, muß man doch sehr tapfer sein, um ohne Taschentuch zu entkommen. Die während der Woche im hundert Quadratmeilen großen London gestohlenen seidenen Taschentücher hängen ganz besonders verlockend gewaschen und geplättet hoch oben entlang, und wem es darauf ankommt, das ihm abhanden gekommene sich wieder anzueignen, kann mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, es hier wiederzufinden und für einen civilen Preis zum zweiten Male zu kaufen. Er muß sich hernach freilich in Acht nehmen, sonst kommt er in die Lage, es vielleicht schon nach ein paar Stunden wieder oben an der früheren Stelle locken und lächeln zu sehen. Es ist überhaupt das Hauptmerkmal des Sonntagsmarkts von Petticoat-Lane, daß ein sehr großer, vielleicht der größte Theil der auf ihm feilgebotenen Gegenstände gestohlenes Gut ist.

Und fortwährend wechselt dies Schauspiel von unabsehbaren Menschenmassen von allerhand Kleidern, Knöpfen, Glas-, Gold- und Putzsachen, von Bildern, zum Theil unter Glas und Rahmen, von Eß- und Trinkwaaren, Früchten und Delicatessen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_663.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)