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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Sinnen nach der Heckenumzäunung hin; er gewahrte deutlich, daß die Zweige sich regten, daß sie wie vorsichtig auseinander geschlagen wurden, ein Kopf und dann der Obertheil eines Körpers kamen spähend und langsam aus dem Gebüsche hervor.

Es war eine weibliche Gestalt, stark aufgeschürzt, Kopf und Schultern in dem hoch aufgeschlagenen Rocke verhüllt und drüber noch mit einem weiten Umschlagtuche verdeckt … die Gestalt schritt sachte und behutsam vor, sie schien etwas in dem Tuche und auf den Armen zu tragen.

„Was soll denn das bedeuten?“ fragte der Nußbichler in sich hinein … „von dort her geht ja gar kein Weg … wo will denn die Dirn’ hin und was hat’s denn in ihrem Tuch versteckt?“

Das Gewimmer traf wieder an sein lauschendes Ohr.

„Das kommt richtig von dort her,“ dachte er halblaut, „das ist eine leibhaftige Kinderstimm’ … die Dirn’ hat ein weinendes Kind im Arm … wo will die damit hin in dem Mordwetter? Da geht was Unrecht’s vor – ich muß wissen, wer die Person ist…“

Leise und gebückt schlich er an dem Heckenzaune in der Richtung hin, daß sie, quer über den schneeigen Bergesabhang heranschreitend, mit ihm zusammentreffen mußte; mit einmal aber schien sie den Lauscher zu gewahren, wandte sich mit einem halb unterdrückten Ausruf der Ueberraschung und huschte mit beschleunigten Schritten in der entgegengesetzten Richtung davon.

„Halt!“ rief der Nußbichler. „So kommst Du mir nit aus! Und wie ist mir denn auf einmal? Der Gang, die Stimm’, die ganze Figur … die Person sollt’ ich ja kennen… Das ist ja gar … na, Dich will ich wohl fangen und Dir in’s Gesicht sehen…“ Damit hatte er den Sack abgeworfen und rannte in angestrengtem Laufe hinter der Gestalt her, welche ebenfalls Alles aufzubieten schien, ihm durch noch vergrößerte Schnelligkeit zu entrinnen. Die Last in ihren Armen aber war ihr vielfach hinderlich und zwang sie nicht selten, der Sicherheit wegen einen Augenblick langsamer zu gehen oder einen weiteren Weg zu machen, weil er der verlässigere war. Bald kürzte sich die Entfernung zwischen ihr und dem Verfolger immer mehr, schon war er ihr so nahe, daß sie das Keuchen seines Athems zu fühlen, seine Hand schon im Nacken zu spüren glaubte, da machte der Verfolger in seiner Hast einen verfehlten Tritt, er glitt aus auf dem mit nässendem Schnee bedeckten schlüpferigen Boden und unfähig, sich irgendwo anzuklammern, kollerte er fluchend ein beträchtliches Stück des Berggeländes hinab. Als er sich unten wieder aufgerafft, hatte die Fliehende im Dunkel der vollends eingebrochenen Nacht Vortheil und Vorsprung wohl zu benutzen verstanden, sie war verschwunden und trotz des emsigsten Forschens und Suchens nirgends Spur oder Laut zu entdecken. „Meinetwegen!“ rief der Lumpensammler und hob die Faust drohend empor. „Du kommst mir doch nit aus, ich muß wissen, was das bedeutet und wer Du bist! … Aber wie dahinter kommen? Ich will in die Mühle zurück, will doch in den Stall kriechen und morgen in aller Früh’ die Spur aufsuchen und verfolgen… Aber nein, das hilft nichts! Bis morgen ist Alles verschneit oder es wird warm Wetter und Alles schmilzt durcheinander… Wie wär’s, wenn ich mich auf die Füß’ machte? Ich bin zwar müde zum Umsinken, ich brauche wenigstens eine gute Stunde, bis ich hinkomme, aber sie hat auch nicht näher… Ja, ich will hin! Will nachsehen, ob sie daheim ist, und wenn nicht … dann freu’ Dich, Alisi, dann hast Du sie in der Hand, dann ist es kein anderer Mensch gewesen, als sie…“

Er barg den Lumpensack möglichst unter einer dicht überhängenden Haselstaude und verschwand im Dunkel, als wäre er es selbst, der zu entfliehen genöthigt sei.

(Fortsetzung folgt.)




Das Glockengrab im Kaiserdom.


Ein stummer, aber laut beredter Zeuge längst versunkener Zeiten und dahin gegangener Geschlechter war vor vielen andern der Dom zu Frankfurt am Main. Was hat er erlebt! Was sah er Alles an sich vorübergehen! – Sein Ursprung reicht hinein in die Zeiten der Karolinger. Die „Mariencapelle Karls des Großen“ hieß der älteste Bautheil des Doms – und die Pfeiler der kürzlich bei dem großen Brande, von welchem wohl die meisten unserer Leser gelesen und gehört haben, zerstörten Orgel leiten ihre Abstammung noch von jener Capelle her. Auch „das Haus der heiligen Jungfrau auf der Mauer“ wurde die erste Kirche an diesem Platze benannt und, wie es heißt, deshalb so bezeichnet, weil die Capelle einstmals an die Stadtmauer anlehnte. Unter Ludwig dem Deutschen, dem Enkel Karls des Großen, der 876 in Frankfurt starb, erhielt die Mariencapelle erst den Namen „Königliche Capelle“, dann wurde sie „Salvatorkirche“ umgetauft. Im Jahre 1238 endlich empfing die einstige Mariencapelle Karls des Großen abermals einen andern Namen und zwar den „Bartholomäuskirche“, welchen sie neben der Bezeichnung „Dom“ bis auf die Jetztzeit getragen.

Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erhielt Frankfurts Dom die Gestalt, die er bis in unsere Tage behalten. Er wurde im gothischen Style, in Form des Andreaskreuzes erbaut. Seine Länge beträgt zweihundertundsechsundvierzig Werkschuhe, von denen neunundachtzig auf das hohe Chor kommen, einhundertundsiebenundzwanzig auf das Schiff der Kirche und dreißig auf das Glockenhaus, über dem sich der im fünfzehnten Jahrhundert erbaute Pfarrthurm befindet. Die Breite des Doms berechnet man auf zweihundertundsechzehn Werkschuhe.

Der Pfarrthurm, zweihundertundsechzig Schuh hoch, an welchem fast ein Jahrhundert gebaut wurde, von 1415–1512, ist nie ganz vollendet worden und erhielt statt der ihm zugedachten Prachtspitze eine wunderliche runde Kappe, die tausend Mal besprochen und sicher Jedem aufgefallen ist, welcher den Dom sah. Jetzt war von Preußens König die Vollendung des Pfarrthurmes verheißen, und nun gerade vernichten die Flammen am meisten den alten Thurm, dem die preußische Spitze ebenso wenig zu behagen schien, wie Frankfurts Kindern Preußens Oberhoheit.

Der Pfarrthurm besaß ein herrliches Glockengeläute; es verkörperte alle Poesieen, die je von Glocken gedichtet haben. Die größte dieser Glocken, über einundneunzig Centner schwer, stammte von Karl dem Großen und trug nach ihm ihren alt-ehrwürdigen Namen „Carolusglocke“. Jahrhunderte tönte sie in tiefen, wunderbar ergreifenden Lauten, fort über eine freie Stadt, weithin durch freies deutsches Land! Sie grüßte die durch Frankfurts Thore einziehenden deutschen Könige und Kaiser und ihre eherne Stimme geleitete dieselbe auf den wichtigen und ehrenvollen Gängen zur Krönung im Dom. Geschlechter um Geschlechter rief sie zur Andacht, kündete ihnen treu des Tages Stunden und mahnte sie ernst und laut an das Gebot: „Du sollst den Feiertag heilig halten,“ – sie war allen Frankfurtern ein von Kindheit auf gewohnter trauter Ton und jetzt beim Dombrande am 15. August verstummte sie für ewig!

Beim Einzuge des Erzherzogs Johann in Frankfurt 1848 sollte die Carolusglocke den deutschen Reichsverweser auch festlich begrüßen. Sie – die aber so nur deutschen Königen und Kaisern gehuldigt – schien zu stolz dazu und sprang und barst in derselben Minute. Neu hergestellt vor Jahresfrist, war sie Zeuge der geschichtlichen Umwälzungen im alten Frankfurt, und an dem Morgen, wo Preußens König in seine Stadt und nicht mehr in die „freie deutsche Reichsstadt“ kam, da hatte die Carolusglocke schon ihren Platz in freier Höhe, in frischer freier Luft, umweht von allen Winden, verlassen und lag stumm und still im hochummauerten Grabe des Glockenhauses als Haufen Erz, der nicht mehr tönt, der nie mehr klingt! –

An den Domthurm knüpften sich einst gar seltsamer Brauch und originelle Sitte. Dort, hoch oben im spätern Wächterhaus des Thürmers, feierten Frankfurter Bürger ihre Hochzeiten, und nicht selten veranstaltete man einen Tanz. Die Neuzeit hat sich mit schlichtem Ersteigen des Pfarrthurms begnügt, und dies gehörte zu den Lieblingsvergnügungen der Frankfurter. Giebt es in der alten Kaiserstadt gar viele alte Leute, die seltsamer und mir stets unbegreiflicher Weise nie in die an den Dom stoßende Wahlcapelle gekommen sind, welche unstreitig eine der interessantesten Stätten der Kirche ist, so möchte wiederum kaum

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_644.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)