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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Ein Ausruf der Freude tönte durch den Salon, – die treuen Genossen des Kaisers umringten den Gefeierten. Napoleon entfaltete das Briefchen, er drückte die Schrift an seine Lippen, sie ging von Hand zu Hand, dann zeigte er behutsam das zweite Papier, eine kleine goldig schimmernde Locke lag darin, ein blaues Seidenbändchen hielt sie zusammen. Die Freude aller Anwesenden war eine stille, ernste geworden, die Wehmuth hielt den lauten Ausdruck zurück und mit thränenden Blicken schaute Alles auf das kleine Büschelchen Haare, dem Haupte entnommen, dessen Locken nach dem Willen des gefesselten Riesen auf Helena einst die Krone des mächtigsten Reiches dieser Erde zieren sollte.

„Es ist mir mehr werth als ein Fürstenthum,“ sagte der Kaiser, die Locke sorgfältig in die Papierhülle legend, „der Brief soll heute Nacht unter meinem Kopfkissen ruhen. Seht Ihr – man hat ihm die Hand geführt, meinem Sohne. Marchand – wer ist der Treffliche, dem ich diesen glücklichen Abend verdanke?“

„Es ist ein junger Gelehrter, der mit dem Personale des Barons Stürmer vorgestern hier anlangte,“ sagte Marchand. „Meine Mutter hat ihm das Paket zustellen lassen, aber wenn Sir Hudson Lowe es erfährt – –“

„Genug! es wird verschwiegen bleiben. O, ich habe noch Freunde überall – ich sehe es. Das ist eine Zartheit – ein Gefühl für mich; wenn ich noch Länder verschenken könnte – wenn ich einst wieder Länder verschenken kann,“ setzte er mit funkelnden Augen hinzu, „sollen Deine Mutter und der junge Gelehrte damit belohnt werden. Kann ich ihm persönlich danken?“

„Er fürchtet die Entdeckung. Es genügt ihm, wenn er von Ihnen, Sire, einen erkenntlichen Blick – einen Gruß erhaschen kann. Vorsicht ist nöthig, lassen Sie uns morgen um die zehnte Stunde etwa im kleinen Garten promeniren.“

„Gut also, Adieu – schlaft Alle wohl!“ rief der Kaiser. „Auf morgen denn.“

Er ging mit seinen Schätzen in das Schlafcabinet und lange noch sah man das Fenster erleuchtet; der Kaiser betrachtete das Schreiben seines Sohnes. –

Welle fühlte sich um einige Centner leichter, als er das Paket in Marchand’s Hände geliefert hatte. Er wartete in gewisser Unruhe einige Tage, ob nicht etwa ein Sturm gegen ihn heranziehen werde – Alles blieb still. Unterdessen machte er fleißig Ausflüge in die Gegend, seine botanische Sammlung begann sich zu vermehren. Oft hatte er das Dach von Longwood mit furchtsamer Neugierde betrachtet, welches zwischen den spärlichen Gummibäumen hervorragte. Von einer dieser Wanderungen zurückgekommen fand er den Befehl vor, sich augenblicklich bei Herrn von Stürmer einzufinden, der in Jamestown wohnte. Welle’s Herz pochte gewaltig. Er ahnte eine Scene, er sah sich in Ketten und Banden, – aber er ging mechanisch in des Barons Haus. Bei seinem Eintritte in Stürmer’s Zimmer fand er diesen vor dem Arbeitstische sitzen. Ohne den Gelehrten zu begrüßen, erhob sich der Baron und reichte Welle, ohne zu sprechen, ein Schreiben. Es war in englischer Sprache abgefaßt und enthielt Folgendes:

     „Mein Herr Baron!

Am Montag Abend um eilf und ein halb Uhr hat der Kammerdiener des gefangenen Generals Napoleon demselben ein Paket überreicht, welches einen Brief und noch einen mir unbekannten Gegenstand enthielt. Der Brief, von Wien gekommen, ist ein Schreiben des Sohnes des Generals Napoleon, meines Gefangenen. Das Paket ist durch einen Mann vom Personal Ew. Hochwohlgeboren überreicht worden, und da ich den unter Ihrem Befehl stehenden Leuten gegenüber nicht eigenmächtig verfahren kann, so habe ich mit dem gestern nach London abgegangenen Paketschiffe mir von meiner Regierung Instructionen erbeten, wie ich mich im gegenwärtigen Falle zu verhalten habe, bemerke jedoch, daß ich Befehl ertheilt, Ihr Personal streng zu überwachen, und daß die Posten Ordre haben, jede unberufene Annäherung an das Wohnhaus zu Longwood mit dem Gewehr zurückzuweisen. Indem ich Ihnen, mein Herr Baron, die Verantwortung für den Vorfall vom Montag Abend zuschieben muß, zeichne ich mit Hochachtung

Hudson Lowe.“

Der unglückliche Welle stand wie angewurzelt, seine Augen starrten auf den Brief, seine Lippen bebten, – er vermochte nur mit leisem Stöhnen zu antworten, als Stürmer ihm, heftig aufbrausend, die Frage entgegendonnerte: „Unglücksmensch, was haben Sie gethan?“ Nach einigem Besinnen faßte er sich jedoch. Der Muth, welcher in der Brust eines jeden Forschers und Gelehrten wohnt, der ihn in die unwirthbarsten Steppen, in die Mitte von Cannibalen hinein treibt, erwachte auch in unserem Botaniker und verlieh ihm die Kraft, sich so wirksam, in so ergreifender Weise seine Handlung zu vertheidigen, daß der Commissar ihn gerührt entließ und seinen Schutz versprach. Welle ging in seine Wohnung zurück. Er fühlte sich nicht nur erleichtert, sondern erhoben, und da er seine politische Mission vollendet hatte, hegte er nur noch einen Gedanken, einen Wunsch: den Kaiser zu sehen, für den er immerhin viel gewagt hatte.

Dieser Wunsch sollte ihm am Freitag erfüllt werden, nur schien die Erfüllung einigermaßen erschwert, denn Sir Hudson Lowe ließ die Beamten Stürmer’s sehr streng überwachen, und die Posten hatten, wie wir wissen, scharfe Ordre. Welle hing seine Botanisirtrommel über, ergriff seinen Sonnenschirm und machte sich nach Longwood auf den Weg. Er stieß bald auf die erste Postenlinie und sah, wie einer der im Umkreise gelagerten Schützen sich erhob, um ihm zu folgen. Der Botaniker, an eine heiße Sonne gewöhnt, begann nun den beschwerlichsten Marsch über das kahle Felsgestein, bergauf, bergab führte er seinen Wächter, dabei blieb er öfter stehen, um scheinbar Pflanzen zu suchen. Die Sonne schickte ihre glühenden Strahlen herab, der Felsen brannte, aber Welle ermüdete nicht; endlich schien der Begleiter zu ermatten, er suchte Schutz unter einem großen, nicht häufig an dieser Stelle wachsenden Farrenkraute, und als der Botaniker um eine Felsecke bog, hatte er sich den Blicken seines Verfolgers entzogen. Welle, schon mit dem Terrain bekannt, näherte sich durch eine kleine Schlucht rasch dem Hause von Longwood, welches mit seiner Umgebung ein Plateau bildete; vom Rande dieser Schlucht konnte man in den Garten des Kaisers hinabschauen. Die Posten lagerten träge im Schatten der Felsen, denn ein Herankommen von dieser Seite aus war gar nicht zu bewerkstelligen, ohne daß die Wachen es bemerkt hätten. Welle sah scharf um sich. Noch bemerkte er Niemanden, die Gegend war ganz einsam, die Sonne brannte gewaltig und die Uhr auf dem Alarmhause zeigte ein Viertel vor Zehn. Da plötzlich erschienen unter den Gummibäumen zwei Personen, – das scharfe Auge des Forschers hatte sogleich Marchand erkannt, und der Andere – ja, das mußte der Kaiser sein, es unterlag keinem Zweifel, diese Züge waren Jedem bekannt, das gefürchtete und von Tausenden zugleich verehrte Antlitz schaute zu dem Gelehrten hinüber.

Napoleon trug seinen leichten Ueberrock und den runden Hut. Welle sah, wie Marchand mit der Hand dem Kaiser die Richtung bezeichnete, wo der Botaniker stand, im Nu hatte Napoleon ihn ausfindig gemacht. Es war dem jungen Mann, als fühle er die Blitze der Augen in seiner Brust, er sah, wie der Kaiser den Hut lüftete, dann hob sich seine Hand und winkte zwei, drei Mal einen dankenden Gruß nach dem Felsen hin, ihm entgegen, der dem Gefangenen das köstliche Geschenk gebracht hatte: „die Locke des Königs von Rom“. Welle verneigte sich tief; er sah, wie der Kaiser seine feine Hand auf das Herz legte, noch einmal grüßte und dann hinter dem Hause verschwand. In diesem Augenblicke schlug die Uhr zehn, die Trommel wirbelte, die Posten wurden abgelöst und Welle verließ den Felsen. Er hatte den Kaiser gesehen – seinen Dank entgegengenommen.

Merkwürdigerweise ging das Ungewitter an dem Haupte des Gelehrten glücklich vorüber. Sir Hudson Lowe hat nie wieder des Vorfalls erwähnt, und Welle durfte unangefochten auf der Insel bleiben. Später sah er den Kaiser noch öfter, aber ohne ihm näher zu kommen. Ohne Zweifel hatte man in London selbst den Spectakel lächerlich gefunden, den Lowe wegen Uebersendung einer Locke und eines Briefchens erhoben hatte.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_635.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)