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hat kaum das Schwabenalter zurückgelegt. Waldeck, der sich im vierundachtzigsten Jahre zum zweiten Mal verheirathete, bereut durchaus diesen Schritt nicht, den schon mancher viel jüngere Sterbliche bitter beklagt hat.

Waldeck ist von außerordentlicher geistiger Frische und Regsamkeit. Seine Züge beleben sich, wenn er von der Kunst spricht, und mit sichtbarer Freude zeigt er seine Sammlung von Kupferstichen, unter denen sich die prachtvollsten Marc Antons befinden. Dabei erzählt er, wo, wann und auf welche Weise er in den Besitz jedes dieser Werke gelangt ist. Sein Gedächtniß kann nicht zuverlässiger sein; die Namen der Persönlichkeiten, mit welchen ihn sein vielbewegtes Leben während mehr als drei Menschenaltern in Berührung brachte, kommen ihm ohne Zögern auf die Zunge. Er spricht Französisch und Englisch sehr geläufig, minder geläufig jedoch seine Muttersprache, da er seit seiner zweiundneunzigjährigen Abwesenheit von Deutschland nur sehr wenig mit seinen Landsleuten verkehrte.

Waldeck weiß Vielerlei, aber er bedauert es lebhaft, in seiner frühesten Jugend die Humaniora vernachlässigt zu haben. Nicht minder beklagt er es, das Französische nicht correct schreiben zu können; er hätte sonst längst seine Denkwürdigkeiten herausgegeben, zu denen er die Materialien in seinen Tagebüchern besitzt, die fünfunddreißig enggeschriebene Octavbände umfassen. Einer seiner Freunde, der Graf von St. Priest, überredete ihn, sein Leben von Alexander Dumas schreiben zu lassen. Zu diesem Zwecke ließ Waldeck dem Verfasser des Monte Christo mehrere Manuscripte einhändigen, die leider verloren gegangen. Vielleicht, daß sich diese Papiere nach dem Tode Waldeck’s wieder vorfinden! Der alte Herr, der so oft dem Tode in’s Auge geschaut, denkt übrigens gar nicht daran, das Zeitliche zu segnen. Er fürchtet den Tod nicht, aber er liebt das Leben und ist fest überzeugt, daß er das elfte Jahrzehent, welches er so frisch und rüstig begonnen, ebenso rüstig und frisch zurücklegen wird.




Die Wartburg.
Ein Beglückwünschungsblatt zu ihrer achten Säcularfeier.
Von Ludwig Storch.
I.


Es mag in unseren Tagen schwerlich ein deutsches Herz von Bildung und Gefühl für Schönheit in Natur und Kunst, sowie von Liebe für große vaterländische Erinnerungen und specifisch deutsches Wesen geben, das sich der eigenthümlichen Geistesanregung und Gemüthserhebung zu entziehen vermöchte, welche, vielfach einem Zauber verglichen, schon vom Worte „Wartburg“ ausgehen.

Was ist der Grund dieser außerordentlichen Gemüths-, dieser ganz besonderen Wartburgstimmung, wie man dieselbe mit Recht genannt hat? Man wird sie sicherlich nicht den landschaftlichen Reizen der Bergveste und ihrer Umgebung allein zuschreiben, denn in dieser Hinsicht stehen in Thüringen noch andere wohl erhaltene und bewohnte Bergschlösser, wie z. B. die Schwarzburg und auch die Veste Koburg, ihr nicht nach; und sollten vorzüglich geschichtliche Erinnerungen mit dem Arabeskenschmuck der Sagen solche hohe Seelenstimmung in uns wach rufen, so dürfte für die Süddeutschen die Burg Nürnberg, für die Norddeutschen die Marienburg in Preußen leicht der Wartburg in dieser Beziehung den Rang streitig machen. Was endlich die specifischen Wartburgsagen betrifft, z. B. die von der heiligen Elisabeth, so tragen dieselben durchgehends einen so kindlich naiven Charakter oder sind so mit unmöglichen Wundern und Zeichen überladen, daß sie schlechterdings nicht ein maßgebendes Moment für die „Wartburgstimmung“ geben können. Viele werden dieses nun in dem Asyle Luther’s und seiner reformatorischen Thätigkeit auf Wartburg suchen, aber darauf läßt sich erwidern, daß Luther sich während des großen Augsburger Reichstags auch auf der Veste Koburg aufhielt und hier den weltberühmten Kampfgesang der Protestanten, sein Lied dichtete: „Eine feste Burg ist unser Gott etc.“, und trotzdem hat diese Burg noch lange keine so große welthistorische Bedeutung und ruft in ihrem Beschauer keine so hochpoetische Stimmung hervor wie die Wartburg.

Der Grund der hervorgehobenen auffallenden Erscheinung ist, daß die Wartburg bewußt oder unbewußt von allen Deutschen heutigen Tages als das einzige Nationalheiligthum unseres Volkes betrachtet und verehrt wird, als eine Lichtburg des deutschen Geistes, als geheiligte Cultstätte der deutschen Geistesfreiheit, als Kampf- und Siegesfestplatz der nie ermattenden Geistesarbeit des deutschen Genius. Was den Deutschen zum Deutschen prägt, was ihn zum Forscher und Vorkämpfer der Civilisation macht, das klare Wissen und der Muth dasselbe öffentlich zu bekennen, dieses charakteristische Abzeichen des Deutschthums finden wir in der Wartburg nicht nur symbolisch angedeutet, sondern auch verständlich ausgesprochen, sowohl in ihrer Geschichte, als auch in ihren von der patriotischen Liebe und Begeisterung eines hochsinnigen Fürsten erneuten Localitäten. Ja, in der Geschichte des Ringens und Kämpfens des deutschen Geistes gegen den bewältigenden und erstarrenden Orientalismus, wie es in den Hauptmomenten der Wartburgchronik so gewaltig und überzeugend bis auf unsere Tage hervortritt, in den Lichtspuren, welche dieser Kampf auf der Wartburg zurückgelassen hat, um sie zum deutschen Nationalheiligthum zu stempeln, ist der Grund der allgemeinen Begeisterung, Liebe und Verehrung des deutschen Volkes für seine Wartburg zu suchen.

Die Wartburg war keineswegs zur deutschen Geistesburg oder zum deutschen Nationalheiligthume erbaut, wie etwa die Akropolis in Athen zum Nationalheiligthum der Hellenen, oder der Tempel auf Morija zum Nationalheiligthum der Juden; die Wartburg ist das im Laufe der Zeit erst geworden; sie ist aus dem Geiste des deutschen Volks erst allmählich als Nationalheiligthum herausgewachsen, ja die Idee desselben hat sich erst seit 1817 langsam, aber schön herausgebildet und steht nun nach fünfzig drangvollen Jahren in ihrer vollen schönen Blüthe fest und unantastbar da, so daß wir heuer ihr herrliches Doppelfest feiern, das achthundertjährige Jubiläum ihrer Erbauung und das fünfzigjährige ihrer geistigen Wiedergeburt als Geistes- und Lichtburg Deutschlands, als Schmiedeesse und Werkstatt „des Wortes“, das „sie sollen lassen stahn und keinen Dank dazu haben“.

Von diesem hohen Standpunkte aus, den wir seit dem glücklichen Wendepunkte der deutschen Geschichte in den Befreiungskriegen gewonnen haben, dürfen wir die Geschichte der Wartburg und ihre Bedeutung für die Zukunft mit anderen Augen betrachten, als unseren Vorfahren vergönnt war. Und da drängt sich uns denn gleich die Bemerkung auf, wie thöricht und befangen es doch ist, immer wieder den deutschen Idealismus als unpraktischen Lebensverderber zu schelten, während er sich doch zuletzt stets als siegreicher Lebensveredler bewährt. Die Wartburg ist im Laufe von achthundert Jahren aus der Burg eines Grafen, dessen Vater, von bösen Schicksalen aus seinem Heimathlande Lothringen vertrieben, ein Stück rauhen Berglandes im nordwestlichen Thüringerwalde erworben und sich dort eine Burg Schauenburg bei Friedrichrode erbaut hatte, zur Lichtträgerin des deutschen Geistes geworden, die für die Zukunft unseres Volkes noch von großer Bedeutung zu werden verspricht. Das ist naturwüchsiger Idealismus. Keine Fürstenhand hat sie dazu gemacht, wie etwa die verunglückte Walhalla bei Regensburg, das Kind des gemachten und darum nicht lebensfähigen Idealismus, und nun erst, als sie im Geiste des Volks als Tempel des Deutschthums fertig ausgebaut war, hat ein Fürst voll hoher Pietät und Begeisterung für die Idee der Wartburg ihr auch wieder den würdigen königlichen Schmuck verliehen und dem geistigen (idealen) Ausbau den angemessenen künstlerischen hinzugefügt.

Wir finden, daß sie in ihrem neuen alterthümlichen Fürstengewande in einen auffallenden charakteristischen Gegensatz zu einer anderen thüringischen Burg getreten ist, die ihr im Geiste des Volks an poetischer Bedeutsamkeit schier gleichgestellt wird, dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_619.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)