Seite:Die Gartenlaube (1867) 617.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

auch die deutsche Sprache reformirt und ist kein Schreiber auf Erden, der es ihm gleich thun kann.“ Unser eigenes Staunen wächst aber noch mehr, wenn wir bedenken, daß er das neue Testament in kaum zwei Monaten übersetzte, da man von Wittenberg seine Vermittlung in den durch Carlstadt’s Vorwitz, mit einem Male durch den Bildersturm den Gottesdienst reinigen zu wollen, hervorgerufenen Vorgängen häufig in Anspruch nahm, bis er, um persönlich dem Unwesen zu steuern, aller Einreden des Kurfürsten ungeachtet, am 3. März in seiner ritterlichen Verkleidung die Burg verließ.




Ein gräflicher Methusalem in Paris.
Von Ludwig Kalisch.


Als ich mich an einem Märzmorgen 1865 in einem Hutladen der Passage de l’Opéra befand, um mir eine neue Kopfbedeckung auszusuchen, machte mich der gesprächige Hutfabrikant auf einen stattlichen Greis aufmerksam, der in einer Ecke des Ladens ein Zeitungsblatt las.

„Dieser Mann,“ sagte der Boutiquier, „hat gestern seinen neunundneunzigsten Geburtstag gefeiert und ist bereits heute Morgen vom Montmartre zu Fuße hergekommen.“

Ich knüpfte ein Gespräch mit dem Greise an und erfuhr von ihm, daß er sich Friedrich von Waldeck nenne. Der Graf von Waldeck lebt noch, und da er am 16. März 1766 geboren ist, so befindet er sich jetzt im hundertundzweiten Lebensjahre. Er wohnt in der Chaussée des Martyrs und zwar im fünften Stocke. Vor einigen Wochen stattete ich ihm einen Besuch ab, und ich bin fest überzeugt, daß ich meinen Lesern einen Dienst erweise, wenn ich ihnen einige Episoden aus dem vielbewegten Leben dieses merkwürdigen Mannes mittheile.

Der Graf Friedrich von Waldeck ist in Prag geboren; im Jahre 1776 siedelten aber seine Eltern nach Paris über. Sie empfingen in ihrem Hause viele ausgezeichnete Schriftsteller, unter denen mehrere der hervorragendsten Encyclopädisten, wie Diderot und d’Alembert, sich befanden. Die Unterhaltung solcher Männer konnte nicht ohne Einfluß auf den lebhaften Geist des kleinen Friedrich bleiben. Sie erweckten in ihm einen unwiderstehlichen Wissensdrang, den sein Vater nach allen Kräften zu befriedigen suchte. Dieser gab ihm später einen Erzieher in der Person des Abbé D–s. Die Wahl hätte nicht unglücklicher sein können. Der Abbé war zwar ein sehr gelehrter und geistvoller, aber auch ein höchst leichtsinniger und unsittlicher Mann, der seinem Zögling als ersten Lebensgrundsatz die Befriedigung der sinnlichen Begierden empfahl. „Amuse-toi! Fais comme moi!“ rief er ihm beständig zu. Er führte ihn sehr häufig in ein Ursulinerkloster, wo es eben nicht sonderlich streng herging. Die Priorin, die in der Schreckenszeit auf dem Schaffot endete, war blind und daher nicht geeignet, eine strengere Zucht einzuführen. Die lockere Disciplin dieses Klosters hielt den jungen Waldeck natürlich nicht ab, dasselbe in Begleitung seines cynischen Lehrers zu besuchen. Diese Besuche hatten schlimme Folgen und der Vater Waldeck bestand darauf, daß sein Sohn sofort Frankreich verlassen und auf längern Reisen seine Kenntnisse erweitern, seinen Geist ausbilden und sich an Entbehrungen und Mühseligkeiten aller Art gewöhnen sollte.

Waldeck hatte kaum das neunzehnte Jahr erreicht, als er sich in Marseille auf der Brigg Sophie, Capitain Durand, nach dem Cap der guten Hoffnung einschiffte. Er hatte bei dem Maler Vien Unterricht genommen und es zu einer großen Fertigkeit im Zeichnen und Malen gebracht. Dies Talent kam ihm auf der Reise, wo sich ihm so viele Gelegenheiten zu ethnographischen Studien darboten, sehr zu statten. In der Capstadt machte er die Bekanntschaft des einst viel gelesenen und viel verleumdeten Reisenden Le Vaillant, dem er die Zeichnungen zu seinem Werke corrigirt und ihn dadurch zu Dank verpflichtet. Le Vaillant erzählte ihm so viel von seinen afrikanischen Reisen, daß Waldeck eine unbesiegbare Lust verspürte, dieselbe Reise zu unternehmen. Mit der ihm von Le Vaillant vorgezeichneten Marschroute versehen, tritt Waldeck ohne irgend einen Begleiter die gefährliche Reise an. Nach vielen Irrfahrten, die seine Skizzen und Tagebücher bereicherten, kehrt er wieder nach der Capstadt zurück. Am Vorabend der Revolution trifft er in Paris ein. Er lernt bald die berühmtesten Männer der Umwälzung kennen, tritt zu einigen derselben in nähere Beziehung und wird ein vertrauter Freund Danton’s. Er hört den Redner, der einen furchtbarern Donner als Perikles auf der Zunge trägt – er hört Mirabeau reden. Er besucht alle Clubs; er ist Augenzeuge aller Schrecken. Als ihn an einem Septembertage eine dringende Angelegenheit durch den Garten des Palais-Royal führt, wird er bald von einer ungeheuern Menschenmenge umschwärmt. Ein Pfeifer und ein Tambour bilden die Führer dieses heulenden, tobenden, brausenden Menschenstroms. Sie tragen das Haupt der Prinzessin Lamballe auf einer Pike und stürmen nach dem Temple, um der gefangenen Marie Antoinette die gräßliche Trophäe zu zeigen. Einige Tropfen Blutes fallen von dem Haupte auf die Schultern Waldeck’s, der vom wüthenden Strudel fortgedrängt wird. Er sieht Ludwig den Sechzehnten, er sieht Marie Antoinette das Schaffot besteigen. Sein Freund Danton kommt auch an die Reihe.

Zwei Tage vor seiner Verhaftung giebt ihm Danton sein von Vincent gemaltes Portrait. Dasselbe befindet sich als kostbares Andenken in Waldeck’s Arbeitszimmer. Waldeck sagte mir, es sei von sprechender Aehnlichkeit. Die Züge sind nicht nur schön, sondern auch sehr sanft. Das dunkelbraune Auge blickt still und ruhig darein, und der fein geformte Mund verräth nichts weniger als den furchtbaren Volkstribun. Danton wußte übrigens, daß er einen schönen Kopf hatte. „Tu montreras ma tête au peuple: elle en vaut la peine,“ (Du wirst meinen Kopf dem Volke zeigen; es lohnt sich der Mühe) sagte er zum Scharfrichter, als er sein Haupt unter das Fallbeil legte. Waldeck versichert, daß Danton, wenn er nicht auf der Rednerbühne stand, der sanfteste Mann von der Welt war. Seine Stimme war gewaltig und er ließ sie auch, nicht ohne gewisse Eitelkeit, gern mit ungedämpfter Kraft ertönen, wie ein Virtuos, der gern sein Instrument vollkräftig ertönen läßt; aber diese gewaltige Stimme drückte oft die weichsten, die zartesten Empfindungen aus. Waldeck spricht mit dem Ausdruck tiefster Wehmuth von dem Freunde, den ihm die Guillotine vor mehr als siebzig Jahren entrissen.

Nach dem neunten Thermidor hört Waldeck, daß sein alter Freund Le Vaillant, der unter der Schreckensherrschaft als verdächtig in’s Gefängniß geworfen worden, noch immer auf die Freiheit harre. Er begiebt sich zu Madame Tallien, die er kannte, und bewegt dieselbe, dem Gefangenen sogleich die Kerkerthür öffnen zu lassen. Le Vaillant dankt ihm mit Thränen in den Augen. Das war das letzte Mal, daß Waldeck den Reisenden sah. Le Vaillant zog sich bald auf sein kleines Landgut in La Noue zurück, wo er 1824 starb.

Der abenteuerliche Zug in Waldeck’s Charakter ließ ihn nicht lange auf einem und demselben Orte. Er glich der Schwalbe, die nur im Fluge lebt. Blos auf Reisen war es ihm wohl zu Muthe; er fühlte sich nur heimlich, wo er nicht heimisch war. Paris fing an, ihn zu langweilen, und er war froh, als Napoleon die Expedition nach Aegypten unternahm. Er kaufte ein Schiff, das er mit Waaren aller Art befrachtete, und schloß sich der Expedition an in der Hoffnung, sich zu bereichern und viele Erfahrungen zu machen. Er machte indessen bald die Erfahrung, daß man viel schneller ein Vermögen verliert als erwirbt. Sein Schiff wurde nämlich von den Engländern zerstört. Waldeck ließ sich jedoch durch diesen Unfall nicht niederschmettern. Er folgte der französischen Armee überall in Aegypten, schloß sich den Gelehrten und Künstlern der Expedition so innig wie möglich an, zeichnete die großartigen Ruinen des Landes und vergaß dabei nicht sein Tagebuch, dem er nach seiner Gewohnheit alle Erlebnisse anvertraute.

Man kennt den Ausgang jener ägyptischen Expedition. Die französische Armee kehrte nach Frankreich zurück, Waldeck aber zog es vor, seine Reise in Afrika fortzusetzen. Er hatte den südlichen Theil Afrikas gesehen, er wollte jetzt den Südosten dieses Welttheils besuchen. Fünf junge, kühne Männer schlossen sich ihm an. Die Fahrt beginnt und bietet mit jedem Tage mehr Hindernisse, mehr Entbehrungen, so daß Waldeck nach und nach vier seiner

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_617.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)