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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

zur Capelle schreiten, ohne ihm zu folgen, denn er vermuthete, wie er später an Spalatin schrieb, jener stecke noch tief in der alten Finsterniß; er hielt sich also lieber fern von der geweihten Stätte, um sich durch den Drang seines Herzens nicht zu verrathen, und als er demselben später folgte, so waren seine Predigten durchaus keine öffentlichen, wie man fälschlich annimmt, sondern er sprach an Sonn- und Festtagen nur vor dem Hauptmann und eingeweihten Freunden, wie ein Zeitgenosse und Schüler von ihm (Matthesius) ganz einfach erzählt.

Das Verhältniß zu seinem Wirth, dem Burghauptmann, gestaltete sich trotz der durchaus verschiedenen Standesverhältnisse der beiden Männer auf’s Beste. Luther hätte durch seine literarische Thätigkeit sowie durch seine Collegia an der Universität ein reichliches Einkommen haben können, allein er kümmerte sich so wenig um irdischen Gewinn und war dabei so freigebig gegen Arme, daß er, damals achtunddreißig Jahre alt, in solcher Dürftigkeit lebte, daß er Scheuerlin offen gestand: „Noch kenne ich Keinen, der ärmer wäre, als ich selbst.“

Was für ein ganz anderer Herr war dagegen sein Wirth, reich an Ahnen, Gut und Würden, der höchste Beamte des weiten Bezirks, Hauptmann von Eisenach und Quedlinburg, Herr zu Seebach und des Schlosses Heldrungen, vermögend genug, den Bruder des Kurfürsten, den Herzog Johann von Sachsen, aus Geldverlegenheit zu reißen! Die meisten Amtleute waren damals hochfahrende Ritter, aber unwiderstehlich beugte sich des Hauptmanns adliger Sinn vor dem lichten Geiste des gefeierten Mannes, dessen Falkenauge, wie es Erasmus von Rotterdam nannte, seinem ahnenstolzen Blick begegnete, dessen bezaubernde Rede mit klangvoller Stimme sein Herz gewann, dessen scharfes Urtheil und schlagender Witz die Unterhaltung würzten. Dagegen bemühte sich Luther, der ausgesuchten Gastfreundlichkeit, die dem Hausverwalter sogar auffiel, mit den bescheidensten Ansprüchen, an die er überdies gewöhnt war, zu begegnen, aus Besorgniß, der Familie lästig zu werden. Von seiner äußeren Erscheinung aus jener Altersperiode macht man sich überhaupt ein sehr falsches Bild, wenn man sich dasselbe so vorstellt, wie es in späterer Zeit von Lucas Cranach gemalt wurde, als er ziemlich wohlbeleibt geworden war; bedenkt man aber, daß er nach einer getreuen Schilderung, die ihn auf dem Colloquium zu Leipzig mit Dr. Eck (1519) darstellt, bei mittler Statur „wegen vielen Studirens so mager war, daß man an ihm fast alle Knochen zählen konnte“, und daß er in den zwei Jahren unter gleicher Arbeit und Mühe leben mußte, so wird die Gestalt eine ganz andere. Bekanntlich nannte ihn der Hauptmann den übrigen Bewohnern gegenüber Junker Görg und gab ihm zur alleinigen Bedienung zwei Edelknaben. Außer diesen und der Familie des Hauptmanns bildeten das Personal der Burg: zwei reisige Knechte, ein Gerichtsschreiber, der Caplan, der nach damaliger Sitte jedenfalls auch als Schreiber im Amt mit beschäftigt war, ein Koch, Kellner, d. h. Hausverwalter, ein Thorwärter, zwei Wächter und ein Eselstreiber, endlich der Schulmeister am Frauenberg als Vicarius an einem Altar der Capelle. Der neue Junker ließ sich, um die Täuschung zu vollenden, Bart und Haupthaar länger wachsen, trug ein rothes Barett, einen Wappenrock, zuweilen ein Reiterschwert und wohl auch seinen Gepner gegen Wind und Wetter. Nach längerer Zeit war er wirklich so unkenntlich geworden, daß er Spalatin schreiben konnte, er würde ihn schwerlich wieder erkennen, da er sich – setzte er scherzhaft hinzu – selbst nicht mehr kenne.

Luther’s plötzliches Verschwinden erregte allgemeines Staunen, sowohl unter seinen Anhängern als unter den Päpstlern, ja diese zogen, da alle Nachforschungen vergeblich waren, sogar Wahrsager und Zauberer zu Rathe. In Eisenach ging das Gerücht, Freunde aus Franken hätten ihn in Sicherheit gebracht; ein anderes verbreitete sich, einer der beiden Grafen von Henneberg hätte ihn eingefangen, allein der Beschuldigte wies den Vorwurf entrüstet von sich. Voller Angst sendete noch von Worms aus der Straßburger Jurist Gerbell dem Freunde durch Spalatin einen Brief, in dem derselbe um die Nachricht fleht, ob er noch lebe, da die verschiedensten Gerüchte über sein Geschick sich kreuzten. Nur Amsdorf und Spalatin kannten den Aufenthalt, jener erst durch Luther, als der vorsichtige Hauptmann diesem nach ein paar Wochen gestattet hatte, zu schreiben, denn er hatte ihn sogar genöthigt, einige Briefe an Wittenberger Freunde wieder zu zerreißen, da es ihm noch zu früh dünkte, dieselben zu befördern; und wie glücklich war Melanchthon, als er dem gemeinschaftlichen Freunde Wenzel Linke in Nürnberg die frohe Kunde senden konnte: „unser allerliebster Vater lebt!“

In seinen Briefen bezeichnete Luther die Wartburg allegorisch, um dieselben nicht zu Verräthern werden zu lassen, am liebsten nannte er sie sein Patmos, jene Insel, auf welche der Evangelist Johannes verbannt worden war. Bei seinem so lebhaften Temperament gewöhnte er sich nur allmählich an die Vereinsamung, aber das machte nach mehreren Monaten seiner Gewissenhaftigkeit Sorge, auf wessen Kosten er eigentlich hier lebe, bis ihn der Hauptmann versicherte, daß sie der Kurfürst bestreite. Die Eintheilung der Zeit verursachte ihm ebenfalls viel Sorge, da dieselbe auf die verschiedenste Weise in Anspruch genommen wurde. Die erste Periode erfüllte die Beantwortung einer Menge Briefe an Freunde, Widerlegungen von Streitschriften verschiedener Feinde und Bekämpfung von Mißbräuchen der Kirche, um auch hier bei dem Arbeitsdrang seines Riesengeistes für seine Lehre rastlos zu wirken, denn ringsum bestürmten Widersacher das begonnene Werk. Bei aller Schärfe seiner Feder leuchtet aber überall sein Edelmuth hervor, mit dem er gern zu vergelten sucht. Schon 1520 hatte ihn nämlich der kriegerische Franz von Sickingen am Rhein auf seine feste Ebernburg eingeladen, um ihm gleich anderen Lichtfreunden Schutz zu gewähren, Luther jedoch den Antrag abgelehnt. Jetzt suchte er seine Dankbarkeit gegen den Ritter dadurch an den Tag zu legen, daß er ihm eine der ersten Schriften seiner Muse hier oben am 1. Juni dedicirte: das Büchlein von der Beichte, in welchem er das Verwerfliche der Ohrenbeichte und des Abendmahlzwanges geißelte. Schon am 26. Mai hatte er an Melanchthon die Auslegung des achtundsechszigsten Psalms geschickt, denn lange vorher lag ihm die Erklärung der Psalmen in der alten prophetischen Sprache, in der sie ursprünglich gedichtet sind, am Herzen.

Nach und nach schienen trotz aller Vorsicht seiner Freunde seine Feinde jedoch auf die Spur seines Verstecks gekommen zu sein. Als ihm dies der Hauptmann voll Sorge mittheilte, erklärte Luther seine Bereitwilligkeit, sein Asyl mit einem anderen zu vertauschen, und meldete dies auch Spalatin. Endlich schloß er diesem einen Brief von irgend einem Ort her datirt bei, damit das Schreiben, als sei es verloren, in Feindes Hände gespielt werde. Dieses Mittel scheint gute Wirkung gethan zu haben; er blieb ruhig hier, wenn auch ferner nicht unangetastet, doch gerieth das ganze Wesen des stürmischen Mannes theils von der ungewohnten guten Kost, theils durch die Vereinsamung in Unordnung; durch die Schleier seines Unmuthes erblickte er in dem bösen Feind den Störer seiner Ruhe und suchte sich der Sage nach durch den Wurf mit dem Tintenfaß seiner zu entledigen. Er meldete endlich über den gestörten Gesundheitszustand seinem Berather Spalatin, daß er in Erfurt ärztliche Hülfe suchen wolle, doch verbot ihm dieser die Reise, um nicht erkannt zu werden, und sie unterblieb schon darum, weil unterdeß dort die Pest ausgebrochen war. Berlepsch rieth ihm daher in freier Luft seinen Körper durch Bewegung zu stärken, auszureiten und mit auf die Jagd zu gehen. Allein diese behagte ihm bald so wenig, daß er sie in einem Brief an Spalatin eine saure Ergötzung großer Herren und ein treffliches Geschäft für müßige Leute nannte. Für seine Ausflüge zu Pferde gab ihm sein Wirth einen treuen Knappen mit, der ihn eines Tages nach einem Ritt in’s Kloster Reinhardtsbrunn, wo ihn über den Büchern ein Mönch erkannte, großer Gefahr dadurch entriß, daß er ihn rasch mit sich fortzog.

Um auch seinem lieben Vater einen Beweis seiner Thätigkeit zu geben, dedicirte er ihm in einem Brief vom 21. November die Schrift über die Verderblichkeit der Klostergelübde. Am meisten aber erfüllte sein Herz jetzt die Sehnsucht nach Wittenberg, so daß er, nicht länger widerstehend, zu Ende des Monats sich auf ein paar Tage heimlich dorthin in Amsdorf’s Haus begab, um mit den Freunden zu verkehren.

Als er nach seiner Rückkehr endlich an die Uebersetzung der Bibel ging, sah er erst die Schwierigkeit ein und beschränkte sich nur auf die Uebertragung des Neuen Testamentes, weil er – wie er am 14. Januar 1522 an Amsdorf schrieb – ohne dessen Hülfe das Alte nicht angreifen könne. Welche Epoche aber sein Bibelwerk überhaupt machte, geht aus den Worten eines Zeitgenossen, Erasmus Alber, hervor: „Dr. Martinus ist ein rechter deutscher Cicero, er hat uns nicht allein die wahre Religion gezeigt, sondern

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