Seite:Die Gartenlaube (1867) 603.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

zeitig zurückzog, stand in der Ecke, dem Bette gegenüber, eine überlebensgroße Holzfigur, Christus in der Verspottung darstellend, mit Dornenkrone, Purpurmantel und Binsenscepter. Die Gestalt, bis an die Decke ragend und grell bemalt, machte einen unheimlichen Eindruck, aber Lisel war sie vertraut und lieb, denn sie hatte das Holzbild beim Abbruch einer Feldcapelle gekauft, damit es vor Entweihung sicher war, und trug sie mit dem Gedanken, eine neue Capelle auf dem Freudenberg zu bauen und es darinnen aufzustellen.

Das war überhaupt ihr letzter Lieblingswunsch, und wer einmal ihr Vertrauen gewonnen hatte, erfuhr wohl auch warum. Auf dem Freudenberge links vor dem Hause am Hügelabhang war früher ein Capellchen gestanden, dann aber unrechtmäßig abgebrochen und der geweihte Inhalt verschleudert und verunehrt worden. Seit dieser Stunde ist es an der Stelle nicht geheuer; sie ist sumpfig und wird nie vollends trocken, auch im heißesten Sommer nicht, und an den Vorabenden der Festtage und heiligen Zeiten erscheint eine große unheimlich aussehende Kröte, bleibt eine Weile hocken und verschwindet dann räthselhaft, wie sie gekommen. Die Einwohnerschaft des Hauses ist fest überzeugt, daß in der Kröte die arme Seele dessen haust, der das Heiligthum geschändet, und daß sie nicht eher Ruhe findet, als bis dasselbe wieder hergestellt sein wird. Diese Wiederherstellung war darum Lisel’s Lieblingsgedanke; sie dachte schon an den Platz der neuen Capelle und den Bauplan und machte eine Casse, um aus dem Gewinn ihrer Wirthschaft die Kosten zu ersparen. Der Gewinn muß aber nicht beträchtlich gewesen sein, denn die Capelle ist ungebaut geblieben.

Die wackere Fischer-Lisel ist im vorigen Jahre gestorben, in einem Stübchen des Dorfwirthshauses, denn Alter und Gebrechlichkeit hatten sie endlich gezwungen, dem Aufenthalt und der Selbstwirthschaft auf dem lieben Freudenberg für immer zu entsagen. Ihr froher Sinn und ihre tüchtige Gemüthsart hatten sich bis zur letzten Stunde bewährt, wie der letzte rothe Streifen am Abendhimmel noch an den Schimmer des Tages erinnert und ihn zurückstrahlt. Wer etwa jetzt nach Schliers gewandert kommt und bei Lisel’s Tochter, der wackern Frau Posthalterin, einspricht, möge nicht versäumen, beim Gange an den See das einfache Grab der Fischer-Lisel zu besuchen, denn was in ihm liegt, ist ein Herz, das wohl ein freundliches Angedenken verdient, ein echtes, rechtes tüchtiges Gemüth – ein wahres Bauernherz!

S. v. M.




Eine Impfstube auf dem Lande.

„Hast Du Dir schon einmal eine ländliche Kinderimpfung angesehen?“ fragte mich mein Freund, welcher als Arzt in einem Städtchen des bairischen Regierungsbezirks Mittelfranken mit Erfolg prakticirt, und setzte hinzu: „das gäbe reichlichen Stoff zu einem Bilde, welches so recht in das Leben hinein greift.“

Ja wohl, Altmeister Goethe hat’s getroffen, wenn er sagt: „Greift nur hinein in’s volle Menschenleben, da wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“ Es mag Jeder schon die Wahrheit dieses Wortes erfahren haben, aber dem Dichter, dem Künstler solle es immer zur Richtung dienen. Ich, der ich mich bei Befolgung dieser Lehre stets wohl befand, acceptirte meines Freundes Vorschlag mit Freuden und so sprach ich denn eines schönen Morgens zur festgesetzten Zeit in dessen Behausung vor. Dort wurde ich vor Allem belehrt, daß das Impfgeschäft zu den Functionen des Herrn Physicus gehöre und mein Freund es sich nur in diesem speciellen Falle ausgebeten habe, als Listenführer fungiren zu dürfen. So begaben wir uns denn alsobald zu dem alten Herrn, welcher, bereits in mein Vorhaben eingeweiht, mich mit der größten Liebenswürdigkeit empfing. Bald saßen wir in anregendem Gespräch bei einem feierlichen Frühstück und ließen unserem heimischen unterfränkischen Gewächse alle Ehre angedeihen. Während dessen kündigte bescheidenes Klopfen die Ankunft eines Weibleins an, das mit einem zweijährigen Buben, der wacker an einer Semmel schnullte, auf dem Arme erschien. Es war der „Impfstock“ mit seiner Mutter, ein wesentlicher Apparat für das bevorstehende Geschäft und in dieser Eigenschaft bestimmt, an unserer Fahrt Theil zu nehmen. „Impfstock“, mit dieser rein sächlichen Benennung bezeichnet das Landvolk das eine Woche vorher geimpfte Kind, von dessen ausgebrochenen Schutzpocken die Lymphe bei der öffentlichen Impfung genommen wird.

Indessen die beiden Aerzte an dem entblößten Aermchen des Kleinen die Schönheit der Blattern bewunderten, setzte die gute Frau Doctorin, welche, wie ich später erfuhr, bei den Leuten in dem ehrenden Rufe stand, eine „recht gemeine und niederträchtige“ (gütige und leutselige) Frau zu sein, der Mutter des Knaben ein Gläschen von unserem Randersacker nebst einem tüchtigen Butterbrode hin. Mittlerweile[WS 1] polterte eine schwerfällige Miethkutsche heran, die schon bessere Tage gesehen haben mochte; der Impfstock wurde sammt seiner Mama hineingepackt, wir stiegen ein, und fort wackelte unsere alte, preßhafte Kutsche, erst auf glatter Chaussee, dann unter Aechzen und Stöhnen auf holperigen Dorf- und Waldwegen.

So kamen wir denn endlich an dem Orte unserer Bestimmung an und erblickten vor dem Wirthshause eine Wagenburg von ländlichen Fuhrwerken aller Art, welche die Mütter aus den entfernteren Orten zugeführt hatten, und jene selbst standen, saßen hockten mit ihren jüngsten Sprößlingen auf Arm und Schooß vor dem Hause, auf den Treppen, in den Vorplätzen in Gruppen bunt und malerisch durcheinander. Von dem Alter weniger Monate bis zu dem von gegen zwei Jahren (von letzteren jedoch nur einzelne, und zwar die im Vorjahre wegen Kränklichkeit von der Impfung ausgeschlossenen) war hier die jugendlichste Generation einiger Dörfer des Umkreises in etwa achtzig bis neunzig Exemplaren vertreten und es war wirklich eine Freude, so viel blühenden, gesunden Nachwuchs beisammen zu sehen, so viel rosige, vollwangige Menschenblüthen, von denen nur einige wenige arme Würmchen mit kränklichen Zügen eine betrübende Ausnahme machten. Ein wehmüthiges Gefühl wollte mich dennoch beschleichen, indem ich der achtzig bis neunzig Menschenschicksale gedenken mußte, welcher verschleiert vor diesen ihr Dasein noch nicht begreifenden kleinen Creaturen lagen. Wie viele von ihnen werden in Noth und Sorge den Kampf mit dem Leben zu führen haben, wie viele in Unwissenheit und bäuerlicher Beschränktheit dahinleben, wie wenigen wird Zufriedenheit und das Verständniß für wahre Menschenwürde zu Theil werden! Doch weg mit diesen Gedanken und das Skizzenbuch zur Hand!

Schon werden die Kleinen ihrer Kittelchen und Hemdchen entkleidet, der Impfstock auf dem Schooße seiner Mama stärkt sich in Verleugnung seines zarten Alters mit einem energischen Zug aus dem Bierglas, der Ortsdiener nimmt seine Amtsmiene an, in welcher sich die ihm ureigne Dummdreistigkeit mit Würde zu paaren sucht. Er „winkt mit dem Finger und auf thut sich der Zwinger“. Eine Anzahl Mütter tritt in den ländlichen Tanzsaal, der heute einer anderen Bestimmung preisgegeben, auch bald von anderen Tönen widerhallen wird, als von denen der Clarinette und des Brummbasses. Nach geschehener Orts-, Namens- und Altersangabe am Tische des Listenführers tritt Mutter Nummer Eins mit ihrem Kinde an. Dieses reckt das Hälschen, fühlt einen leisen Stich – stutzt – da noch einen, noch zwei – es verzieht den Mund, da kommt das andere Aermchen dran, das Gesicht zieht hundert Falten, der kleine Schreimund öffnet sich und legt aus voller Kehle Probe ab von einer recht gesunden Lunge und einem entwickelungsfähigen Brustkasten. Während die besorgte Mutter ihren Liebling zu beruhigen sucht, sind schon ein paar weitere Schreihälse geimpft und ihr kräftiges Concert wirkt anregend auf den Chorus der im Saale anwesenden übrigen Kleinen. Selbst der Impfstock besinnt sich einen Augenblick, ob er nicht sein Scherflein zu dem großen Ganzen beitragen solle; eine frische Semmel jedoch, ein tiefer Blick in das Bierglas und ein angeborner Hang zum Stoicismus helfen ihm seine heitere Ruhe zu behaupten.

So geht es nun fort in rascher Folge, das Wehgeschrei sämmtlicher Impfkinder erschüttert die Luft und ohne die beruhigendes Gewißheit, daß die große Wirkung eine winzige Ursache hat, wäre der Jammer wirklich herzzereißend. Doch da legt sich der Sturm

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Mittlerwerle
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_603.jpg&oldid=- (Version vom 28.12.2020)