Seite:Die Gartenlaube (1867) 587.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

seine Angehörigen zu befördern, um ihre Anwesenheit und Betheiligung bei dem Begräbniß, welches am gleichen Tage, spätestens am andern Morgen geschehen mußte, zu ermöglichen. Ein Telegramm trug die Trauerbotschaft in ihre Heimath.

Erst spät an diesem Morgen betrat ich das Lazareth. Die Menge und Last der Geschäfte und Arbeiten in diesen Zeiten war wahrhaft erdrückend; wer aber beschreibt meinen Kummer, mein Erschrecken, als ich beim Eintritt in den Saal – den Dragoner erblickte, lebend, heiter und vergnügt, voll Freude über meinen Besuch! Wohl freute ich mich auch herzlich, – aber das leidige Telegramm, die Todesanzeige, sie befanden sich seit Stunden in den Händen seiner Familie und diese sah ich im Geiste in Thränen und tiefem Weh.

Nur einen flüchtigen Gruß winkte ich meinem jungen Freunde zu, dann eilte ich an den Schreibtisch, um durch eine andere telegraphische Benachrichtigung die frühere zu widerrufen. Ich fürchtete zwar ihre Nutzlosigkeit, wollte aber nichts versäumen, um die Folgen eines so traurigen Mißverständnisses abzuwenden. Mein Dragoner erfuhr natürlich kein Wort von der unglücklichen Sache, die durch eine Verwechslung der Nummern geschehen war. Als ich später an sein Lager trat und meine Augen bei seinem Anblick und in der Erinnerung an den Kummer seiner Angehörigen sich umflorten, wurde auch er ernst und frug: „Sie sehen nach der leeren Bettstelle des Jägers, den man heute Nacht todt hinweggetragen, Ihre Augen thränen, – war der Verstorbene vielleicht ein Verwandter von Ihnen?“ – Wie schwer drückte mich meine Verschuldung, mein allzu rasches Handeln!

Wie ich gefürchtet, so geschah es. Zunächst ging folgender Brief ein:

„Geehrter Herr! Nehmen Sie besten Dank für Ihre Mittheilung. Leider konnten die Worte, welche aus so warmem Herzen kamen, nicht in die Herzen Aller dringen. Mein guter Bruder, der bereits fünf Söhne durch den Tod verloren hat, ist auf die Nachricht vom Verluste seines letzten Kindes hin irrsinnig geworden. Mündlich mehr, da ich Ihnen morgen die Hand drücken werde.

N. N.

Am andern Morgen früh erschien die Tante selbst. Mit strömenden Thränen reichte sie mir wie eine alte, liebe Bekannte die Hand und sprach: „Mein theurer Herr, ich bin die Tante des jungen Mannes, welcher nach Ihrer Meldung am gestrigen Tage in Ihrem Lazarethe gestorben, und habe nur noch den Wunsch, den lieben unvergeßlichen Todten noch ein Mal zu sehen. Wer von uns hätte gedacht, daß er so früh schon und in dieser Weise enden werde, er, die letzte Hoffnung seiner Eltern, der einzige von sechs blühenden Söhnen! Ich darf den Jammer der Seinigen gar nicht ausdenken; kommen Sie, führen Sie mich zu ihm, daß ich den bittern Kelch austrinke.“

Wie schwer bedrückte mich meine Schuld bei den Thränen und Klagen der alten Dame, wie sehr bereute ich meine Hast; aber dennoch wieder jauchzte es auch in meinem Innern, denn ich hatte ja den schönsten Trost für sie in der Hand: die Nachricht von der Auferstehung, von dem Leben ihres Lieblings. Und diesen Balsam reichte ich ihr auf dem Wege nach dem Lazareth. Nun erst wurde mein Herz wieder ruhig.

Ich führte meine Begleiterin einstweilen nach der Laube am Hause und eilte dann in den Krankensaal, um meinen jungen Freund auf ihren Besuch vorzubereiten. Als mich der Patient so freudig erregt sah, rief er verwundert: „Lieber Herr, heut’ machen Sie ein ganz anderes Gesicht, als gestern Morgen; Sie sind so heiter und vergnügt. Haben Sie etwas Angenehmes erfahren? Sie bringen mir selbst wohl eine gute Nachricht?“

„Freilich habe ich etwas Angenehmes für Sie, wenn es auch nur ein Traum ist,“ gab ich zur Antwort. „Denken Sie nur, mir träumte, die Tante käme hierher!“ Bei diesen Worten leuchteten seine Augen hell auf und als ob er die Wahrheit ahne, griff er nach den ledernen Handhaben, zog sich in die Höhe, warf einen Blick durch das Fenster und rief jubelnd:

„Meine Tante ist hier, da – da draußen steht sie, ich sehe sie! Tante, hier bin ich, komm herein zu Deinem Karl!“ Kaum war der Ruf geschehen, als auch schon die Saalthür aufgerissen wurde und Neffe und Tante in der zärtlichsten Umarmung lagen. Wir Alle, Arzt und Krankenwärter und selbst die Verwundeten umher, sahen im tiefsten Mitgefühl das Glück der Wiedervereinigten.

Noch eine dunkle Wolke stand über meinem Haupte: es war ein zweiter Besuch, die noch bevorstehende Ankunft der Eltern meines Schützlings. Endlich, gegen Abend, trafen auch sie hier ein; mein letztes Telegramm mit der Nachricht vom Leben ihres Sohnes hatte sie noch erreicht. Die Mutter war voll brennender Sehnsucht nach dem geliebten Sohne, der Vater blieb stumm, starr und unempfänglich für den erhaltenen Widerruf. „Ein Todter kann nicht leben,“ gab er stets zur Antwort. „Alle sind todt, Fritz ist gestorben, Willi auch“ … er zählte alle seine verewigten Kinder auf und endete stets mit den Worten: „Und ich bin auch todt!“ Dieser Anblick und Jammer durchbohrte mein Herz und unwillkürlich murmelte ich, eingedenk meiner Vorschnelle: „Vergieb uns unsere Schuld!“

Ich führte beide Gatten nach dem Lazareth, zunächst nach dem Blumengärtchen, um den Verwundeten im Saale auf den Anblick seiner Eltern vorzubereiten. Zuvor aber nahm ich Rücksprache mit dem Arzte und beschrieb ihm auch den Zustand des Vaters. „Unser Dragoner,“ antwortete er, „war anfänglich bei dem Besuche der Tante sehr aufgeregt, aber sein längeres Zusammenbleiben mit ihr beruhigte ihn immer mehr. Ich fürchte nicht, daß der Besuch seiner Eltern ihm schaden wird, besonders dann nicht, wenn Tante oder Mutter über Nacht bei ihm bleiben. Dann ist es auch gar wohl möglich, den alten Herrn wieder zur Vernunft zu bringen, wenn er sich durch den Augenschein von dem Leben seines Sohnes überzeugen muß. Der alte Herr thut mir leid, fünf erwachsene Söhne verloren, der letzte schwer verwundet und noch keineswegs über alle Gefahr hinweg – es ist ein schweres Geschick!“

Dieses Mal unternahm die Tante das kritische Geschäft der Vorbereitung im Lazareth, ich selbst begab mich in das Gärtchen zu den Eltern, um sie aus Verlangen sofort zu ihrem Sohne zu führen. Nicht lange und es rief am Fenster: „Mutter, Vater, ich lebe noch, wo bleibt Ihr! Ach, kommt doch herein – herein zu mir!“ Zitternd und schwankend schritt die Mutter an meinem Arme dem Saale, dem Lager ihres Kindes zu; ich wandte mich ab, die Scene war allzu schmerzlich, und begab mich zum Vater zurück. „Alles nicht wahr, ein Todter kann nicht leben, Fritz ist gestorben, Willi auch,“ kurz, seine ganze irre Vorstellung brachte der Unglückliche draußen immer von Neuem zu Tage.

Als ich diesen herzbrechenden Zustand und sein fortwährendes Widerstreben, der Gattin zu folgen, wahrnahm, umfaßte ich ihn mit starkem Arm und zog ihn unter guten und ernsten Worten in den Krankensaal, an das Lager seines Sohnes. Ein Griff und Zug an den Handhaben, und dieser saß urplötzlich aufrecht vor dem Vater, gestützt und gehalten durch den hinzugetretenen Arzt. „Vater, theurer Vater,“ rief er schmerzlich, „besinne Dich, ich bin Dein Sohn Karl, kennst Du mich nicht mehr?“ Scheu hatte sich der Irre in dem weiten Saale umgesehen; die Menge und Schmerzensgeberden der Verwundeten schienen ihn zu ängstigen, er wich zurück und strebte von meinem Arm los zu kommen, da hörte er eine bekannte Stimme, den lauten Ruf seines Sohnes, sah dessen bleiches Antlitz, seine flehenden Hände, vernahm das leise Schluchzen von Gattin und Schwester, und – es tagte in seiner umnachteten Seele, der starre Blick schwand, die matten Augen belebten, die Arme erhoben sich, das Bewußtsein, die Erinnerung kehrten zurück. „Karl, mein Karl,“ rief er lautschluchzend, „sehe ich Dich wieder, Du bist nicht todt?“ und eilte nach dem Lager seines Kindes, aber er erreichte es nicht, ohnmächtig sank er nieder.

„Beruhigen Sie sich, junger Mann,“ sprach der Arzt zu dem angsterfüllten Sohne, „Ihr Vater wird erwachen und, wie ich hoffe, mit zurückgekehrter geistiger Klarheit!“

Es war ein kühnes Wagniß, einen Schwerverwundeten solchen Aufregungen zu unterwerfen; noch mehr, durch die beabsichtigte, plötzliche Begegnung und Vorführung des irren Vaters dessen geistige Wiederbelebung zu versuchen. Ich sowohl, wie der Arzt, standen in großer Sorge und blieben deshalb statt Mutter oder Tante bei dem Patienten während der ganzen Nacht – seine Angehörigen ließen wir zur Ruhe gehen – aber die starken Nerven, der robuste Körper des jungen Mannes siegten. Ein wohlthätiger Schlummer, unter fortwährend glücklichem Lächeln des lieben Burschen, beruhigte die Pulse und die Gefahr ging vorüber.

„Gott sei Dank!“ riefen wir Beide aus voller Seele, als wir uns bei Tagesgrauen verabschiedeten. „Freund,“ sprach leise der Arzt, „ein Mal und nicht wieder; das hieß den Himmel

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 587. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_587.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)