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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Makel oder auf sittliche Rohheit geschlossen werden mußte, so war natürlich ernste Rüge, in schlimmeren Fällen strenge Züchtigung die Folge. Solche Züchtigung war ein feierlicher Act, durch den uns, da er vor versammelter Gemeinde vorgenommen wurde, stets klar vor Augen geführt ward, wie durch das Vergehen unsere sittliche Gemeinschaft gestört worden sei. Bei solchen Strafhandlungen trat uns die ganze sittliche Würde und der väterliche Ernst des Directors ehrfurchteinflößend entgegen; je seltener sie vollzogen wurden, einen desto tieferen Eindruck hinterließen sie. Hin und wieder schritten wir in Fällen, die uns Strafe zu verdienen schienen, obwohl nicht ein eigentliches Vergehen vorlag, auch selbst strafend ein. Vor versammelter Gemeinde ward der Fall vorgetragen und das Urtheil gesprochen. Andere Strafen, als mehrtägige Ausschließung aus unserer Gemeinschaft, verhängten wir nicht, aber das Urtheil ward in aller Form und Strenge vollzogen und die Strafe verfehlte nie ihre Wirkung.

Wir wurden körperlich hart gewöhnt, nicht mit künstlichen Zwangsmitteln, sondern ganz naturgemäß in Folge der großen Einfachheit, in der wir erzogen wurden, und da der Grundsatz Geltung hatte, daß wir uns von früh an selbst bedienen, selbst helfen lernen mußten. Auch half zu unserer physischen Kräftigung der Umstand wesentlich mit, daß wir völlig auf dem Lande und in einer sehr glücklich gewählten räumlichen Umgebung lebten. Nur wenige Schritte aus dem Hofe der Anstalt kostete es, so waren wir am Fuße unserer lieben Berge, an und auf denen wir, bauend und pflanzend, kletternd und spielend, Sommer und Winter den größten Theil unserer Freistunden verbrachten. Das Bildchen des Dorfes und der Erziehungsanstalt Keilhau und der nächsten Umgebung, welches die Leser auf Seite 581 dieser Nummer finden, bestätigt wohl zur Genüge den Ausspruch, daß eine glücklichere Lage für eine Erziehungsanstalt, als die unsere, kaum gewählt werden konnte. Wie hier an der Nord- und Westseite, so erheben sich auch südlich vom Dorfe herrliche Berge; nach Osten hin öffnet sich das Thal in das Saalgebiet. Alle Höhen bieten liebliche Nah- und Fernsichten, bald in das Saalthal, bald in die Kalkvorberge des Thüringer Waldes. Die schönsten Punkte der letzteren, Blankenburg, das Schwarzathal, Schwarzburg, Paulinzella, der Singerberg, sind alle in wenigen Stunden bequem zu erreichen und häufige Wanderungen dahin weckten unsere Wanderlust, bildeten unseren Sinn für Naturschönheiten, waren eine treffliche Vorbereitung für die größeren Fußreisen, welche alljährlich im Herbst, gewöhnlich in drei Abtheilungen, jede geführt von einigen unserer Lehrer, unternommen wurden.

Turnen und Spiel im Freien, in den Sommermonaten täglich kaltes Bad und Schwimmübungen in einem eigens dazu angelegten Bassin – dies zusammen mit einer durchaus geregelten und geordneten, einfachen und nüchternen Lebensweise, stählte die Kräfte auch des Schwächlichsten in kurzer Zeit, so daß ernstliche Krankheiten die Anstalt nur äußerst selten heimsuchten, überhaupt aber das Krankenzimmer in der Regel leer stand.

Was den Unterricht anbelangt so galt es stets auch hier als feststehende Regel, die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen gewissenhaft zu berücksichtigen, die verschiedenen geistigen Kräfte möglichst gleichmäßig auszubilden, insbesondere das Schlußvermögen nicht über dem Gedächtniß zu vernachlässigen und im Betreff der Quantität des gleichzeitig Dargebotenen verständiges Maß zu halten. Daß die Classeneintheilung nicht in dem Maße durchgeführt war, daß jeder Schüler in allen Unterrichtsfächern ein und derselben Classe angehören mußte, mochte zwar hin und wieder beim Uebergang der Zöglinge in andere Bildungsanstalten hinderlich sein, kam aber jedenfalls der gründlichen Durchbildung der Zöglinge während ihres Aufenthaltes in Keilhau wesentlich zu Gute und war, wenn überhaupt, doch nur störend für die, welche die Anstalt nur kürzere Zeit besucht hatten; denn in den höheren Classen glichen sich die Unterschiede fast völlig wieder aus, die in den niederen gemacht werden mußten. Die Leistungen der Anstalt auf dem Gebiete des Unterrichts waren selbstverständlich zu verschiedenen Zeiten je nach der Befähigung und Zusammensetzung des Lehrerpersonals verschieden. Im Ganzen haben wir immer auch in dieser Beziehung nur Erfreuliches vernommen; namentlich ist stets den in Keilhau Gebildeten eine besondere Reife des Urtheils und geistige Gewandtheit nachgerühmt worden.

In Keilhau wurde eine lautere und gesunde Religiosität gepflegt. Die religiöse Bildung beschränkte sich nicht auf den eigentlichen Religionsunterricht, sondern das ganze Leben ward getragen und erhoben von einer gewissen religiösen Weihe, die frei war von jeder Scheinheiligkeit und Frömmelei, aber auch jede Spur von Frivolität vollständig ausschloß.

Besonders erbaulich wurden neben den eigentlichen Familienfesten die großen kirchlichen Feste begangen, vor allen das Weihnachtsfest, dessen Feier einen heiteren und gemüthlich tief anregenden Glanzpunkt in unserem Winterleben bildete – dergestalt, daß keiner von uns jemals das heimische Weihnachten vermißte, so viel reicher und glänzender da auch die Bescheerung ausgefallen sein mochte.

Ich könnte so noch Seiten lang von dem Leben, dem Geiste und der Eigenart der Anstalt, die mir mit vielen Hunderten eine so liebe Gedankenheimath geworden, erzählen, aber das Bild würde doch nicht so treu und klar werden, wie es in meiner Seele verzeichnet ist, und selbst nicht so treu und klar, wie es Dem vor die Seele treten wird, der etwa auf einer Reise durch den vielbereisten Thüringer Wald es nicht versäumt, von Rudolstadt oder Schwarzburg ab einen Abstecher in das liebliche, stille Keilhauer Thal zu machen und dort einen Tag in der Anstalt zu verleben, wo ich ihm gastfreundlichste Aufnahme versprechen kann und wo er, wenn sein Gemüth empfänglich ist für Genüsse solcher Art, unvergeßlich wohlthuende Eindrücke empfangen wird.

Das schönste Zeugniß für Keilhau scheint mir die unwandelbare Liebe und Anhänglichkeit Derer, welche einst dort ihre Jugendbildung genossen, und diese Liebe war es auch, welche jenes Fest so erbaulich machte, zu dessen Begehung wir am vorigen Pfingsttage, wie erwähnt, nach Keilhau wallfahrteten.

Von nah und fern waren die alten Keilhauer herbeigeeilt, – Männer jeden Lebensalters und aus den verschiedenartigsten Berufskreisen – Alle getrieben von dem Verlangen, bei diesem festlichen Anlaß die Stätte wieder zu begrüßen, an der sie so glückliche Jahre verlebt, den theueren, lieben Menschen wieder in’s treue Angesicht zu blicken, die einst ihres Leibes und ihrer Seele Hüter gewesen waren.

Für uns Aeltere war das Fest freilich ein Fest nicht nur dankbarer, sondern auch wehmüthiger Rückerinnerung. Denn es fehlte manches theure Haupt unter den Festgenossen. Fröbel war heimgegangen, der treffliche Middendorf und Barop’s herrliche Gattin; so ferner Fröbel’s Bruder aus Osterode, der lange Jahre hindurch die Oekonomie der Anstalt geleitet hatte, und dessen Gattin, die als liebenswürdige Matrone uns so treu vor Augen stand. Dafür hatten wir aber auch manche besondere Freude. Wir fanden den Dritten der Gründer der Anstalt, Langethal, noch in rüstigster Lebenskraft, zwar des Augenlichtes beraubt, aber noch heiter und klar und wohlgemuth wie sonst; wir fanden dessen jüngeren Bruder, den Prof. Langethal, den ersten Zögling der Anstalt; wir fanden Barop, fast noch so rüstig, wie er vor zwanzig Jahren war; wir fanden viele theure Glieder der Familien unserer Erzieher, wir fanden viele unserer Jugendfreunde, denen wir seit langen, langen Jahren nicht wieder begegnet und denen wir uns doch brüderlich nahe fühlten, als die meist rührenden, oft komischen Scenen des Wiedererkennens überwunden waren; unsere lieben Berge standen ja noch wie sonst, nur durch die fleißige Hand des Directors der Anstalt vielfach trefflich angebaut; wir konnten uns versenken in unsere glückliche Jugendzeit und jenen verjüngenden Traum träumen, von dem so mancher Sänger singt.

Unseren Rückblick auf dieses schöne Jubelfest einer im wahren und vollen Sinne deutschen Erziehungsanstalt wissen wir nicht besser zu schließen, als mit Langethal’s warmen Worten auf dieselbe: „Ein halbes Jahrhundert hindurch,“ so sagt er, „hat die Anstalt dem Wechsel der Dinge getrotzt, sie hat Glück und Unglück erfahren, gute und böse Tage gesehen, doch war kein Geschick im Stande, ihre Grundsätze zu beugen. Darum darf sie mit Freuden auf die Vergangenheit schauen und mit Zuversicht auf die Zukunft blicken… Der frische Geist, welcher die Anstalt zu Keilhau geboren und sie getragen hat ein halbes Jahrhundert hindurch, der wird auch niemals entweichen und sie ferner noch führen durch alle Wechsel der Zeiten hindurch. Wenn dann wiederum nach fünfzig Jahren ein anderes Geschlecht die große Feier des hundertjährigen Jubiläums begeht, dann sollen sich unsere Nachkommen sagen: daß das Irdische vergänglich, das Geistige aber göttlichen Ursprunges ist, welches auf Erden in Formen zwar wechselt, im Wesen aber ewig besteht.“

A. E.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_583.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)