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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

den Befehl zum Anspannen gab, war er noch blasser als bisher. Er küßte Weib und Kinder innig, als ob es sich um ein Lebewohl für ewig handle, allein vergeblich erwartete Anna ein Wort von ihm zu hören. Er vermochte nicht zu sprechen, die Erregung seiner Seele war zu mächtig. Er vergaß selbst zu sagen, daß er über Nacht fortbleiben werde. Noch ein wehmüthiger Blick auf das geliebte Weib – dann bestieg er mit seinem Rechtsbeistande den Wagen, drückte das Gesicht in beide Hände, und einige Augenblicke später sah ihn Anna in dem nahen Hohlwege verschwinden. –

„Gerichtsdiener, rufen Sie den Schulzen Joseph .… aus ..…dorf auf und führen Sie ihn auf die Anklagebank!“ befahl am nächsten Morgen der Vorsitzende des Schwurgerichtshofes, ein würdiger Herr mit grauem Haar und wohlwollenden Zügen, nachdem die Geschworenen sich versammelt hatten und durch eine ernste Ansprache auf die Pflichten ihres Berufes hingewiesen worden waren.

Fast wankenden Schrittes erschien Joseph, geführt von dem Advocaten, der sich dem Gerichtshofe als Vertheidiger vorstellte, in dem einfach und angemessen decorirten Gerichtssaal. „Muth, Muth, junger Freund!“ flüsterte ihm sein Begleiter zu, als Joseph unwillkürlich vor dem Eintritt in das Gitter, welches die Anklagebank einschließt, zurückschreckte. „Der Platz auf dieser Bank schändet nicht, es hat schon mancher brave Mann darauf gesessen.“

Joseph sammelte seine Kräfte energisch und von diesem Augenblicke an, wo das furchtbare Geschick, das so lange auf ihm gelastet und jede Lebensregung seiner Brust erstickt hatte, der Katastrophe zueilte, gewann er, wie es eine Eigenthümlichkeit starker Naturen im Moment der äußersten Gefahr ist, seine volle männliche Festigkeit wieder. Er trat ohne Weiteres in den ihm angewiesenen Raum, bezeigte dem Gerichtshofe durch eine Verbeugung seine Ehrerbietung und erwartete ruhig die nächsten Vorgänge. Nur als sein Blick auf den Zuhörerraum fiel und er diesen dicht gefüllt und Aller Augen auf sich gerichtet sah, überzog ein dunkles Roth seine bleiche Stirn und unwillig wandte er sich mit der Frage an seinen Vertheidiger, ob die Leute nicht würden entfernt werden.

Ehe Letzterer noch antworten konnte, eröffnete der Präsident die Verhandlung mit dem Namensaufruf der Geschwornen und belehrte Joseph, nachdem die Namen der Anwesenden in die Urne gelegt worden waren, über das ihm zustehende Ablehnungsrecht bei der nun beginnenden und, da weder von der Staatsanwaltschaft noch von der Vertheidigung von diesem Recht Gebrauch gemacht wurde, sehr schnell beendeten Bildung des Schwurgerichts. Die Geschwornen nahmen in der Reihenfolge, wie sie das Loos aus der Urne hatte hervorgehen lassen, ihre Sitze ein und Joseph bemerkte mit Befriedigung, daß mehr als die Hälfte unter ihnen Männer waren, welche ihn seit seiner Jugend kannten und mit denen sowohl sein verstorbener Vater als er selbst in mannigfachem Verkehr gestanden hatte. Als nach ihrer Vereidung auf den von Joseph’s Vertheidiger lebhaft unterstützten Antrag des Staatsanwalts der Gerichtshof die Ausschließung der Oeffentlichkeit während der Verhandlung beschlossen, der Zuhörerraum sich geleert und der Gerichtsdiener die Eingangsthüren verschlossen hatte, befahl der Präsident nach einigen Joseph’s persönliche Verhältnisse betreffenden Fragen die Vorlesung der Anklageschrift.

Die Aufregung, mit welcher die Mitglieder des Gerichtshofes und die Geschwornen dem Inhalt des Schriftstücks folgten, bezeugte ebenso sehr das Interesse, das sie an der Person des Angeklagten nahmen, wie den Abscheu, welchen die von der Staatsanwaltschaft selbst mit größtem Widerwillen veranlaßte, durch die bestehenden Gesetze aber gebotene strafrechtliche Verfolgung der Sache überhaupt in ihnen erregte. Es war ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit, dessen Joseph angeklagt war. Es war jene unglückselige Stunde am Rosenhag, die in Verbindung mit dem Umstande, daß Anna damals das vierzehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt hatte, die thatsächliche Grundlage der Anklage bildete, einer Anklage, deren auf mehrjährige Zuchthausstrafe hinweisender Schluß für einen vor acht Jahren begangenen Fehltritt nicht blos den einen Mann auf der Anklagebank, sondern eine ganze Familie der Vernichtung preiszugeben drohte!

Eine tiefe Stille trat ein, als der Gerichtsschreiber dem Präsidenten die Acten zurückreichte und dieser, sichtbar bewegt, das Wort ergriff:

„Ehe ich die im Gesetz vorgeschriebene Frage an Sie richte, Angeklagter, kann ich es mir nicht versagen, einem Gefühl Ausdruck zu geben, von dem Niemand in diesem Saale unberührt geblieben ist, dem Gefühl der aufrichtigsten Theilnahme an dem schweren Geschick, welches Sie betroffen hat. Wir werden Ihnen dasselbe, unbeschadet der getreuen Erfüllung unserer Pflicht und der Heilighaltung unseres Eides, soviel wie möglich zu erleichtern suchen. Fassen Sie Vertrauen zu dem Gerichtshofe und sehen Sie der Gefahr mit Mannesmuth in’s Auge. Können Sie sich dazu entschließen, die reine und volle Wahrheit zu sagen, so dürfen Sie sich rühmen, das Sittengesetz unter den schwierigsten Verhältnissen erfüllt zu haben; ich halte es indeß für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sorgfältig jede Ihrer Antworten erwägen mögen, damit Sie sich nicht selbst schädigen und Ihrem Herrn Vertheidiger sein Amt erschweren. Hoffen Sie endlich – ich glaube Ihnen das mit Sicherheit in Aussicht stellen zu können – im schlimmsten Falle auf die Gnade des Königs. Und nun frage ich Sie: Bekennen Sie sich schuldig oder nicht?“

Trotz aller Selbstbeherrschung vermochte Joseph den schweren Kampf nicht zu verbergen, den diese Frage, so lange er auch schon von seinem Vertheidiger auf sie vorbereitet war, in seinem Innern erregte. Bis zu diesem Tage war noch niemals eine Lüge über seine Lippen gegangen, sein offener und ehrenhafter Charakter duldete nicht einmal Hinterhalt oder Zweideutigkeit. Wenn er der Stimme seines Herzens hätte folgen dürfen, so wäre seine Antwort ein kurzes Bekenntniß seiner Schuld gewesen. Aber – sowie die gestellte Frage über seine Person hinausreichte, so konnte auch seine Antwort eine Beziehung auf sein geliebtes Weib nicht umgehen. Es schien ihm, als müsse er sie selbst preisgeben, wenn er auf den Inhalt der Anklage näher einginge. Diese Rücksicht überwog auch jetzt, ungeachtet des tiefen Eindrucks, den die herzlichen Worte des Vorsitzenden auf sein empfängliches Gemüth gemacht hatten, jede andere Erwägung und ließ ihn bei seinem von dem Vertheidiger durchaus gebilligten Entschluß beharren, jede Auslassung auf die Anklage zu verweigern.

„Ich bitte es zu entschuldigen,“ erwiderte er nach einer Pause, in welcher ein eigenthümlicher Ton, ähnlich einem unterdrückten Schluchzen, auf einer Galerie des Saales gehört worden war, „wenn ich die Beantwortung dieser Frage und überhaupt jede weitere Erklärung über das mir zur Last gelegte Verbrechen ablehne. Ich bin überzeugt, der Gerichtshof wird die Gründe meines Verhaltens zu würdigen wissen und vor Allem nicht annehmen, daß Mangel an Ehrerbietung vor ihm meine augenblicklich vielleicht seltsam scheinende Handlungsweise bestimmt.“

„Bedenken Sie aber wohl,“ unterbrach ihn der Vorsitzende, „daß die Anklage gerade dies Verhalten, das Sie sich schon in der Voruntersuchung haben zur Richtschnur dienen lassen, als ein Sie in hohem Grade belastendes Moment hervorhebt, daß sie es als die Folge Ihres Schuldbewußtseins auffaßt und daß es allerdings auch von diesem Gesichtspunkt aufgefaßt werden kann.“

Joseph blickte fragend auf seinen Vertheidiger, als dieser sich erhob und erwiderte: „Wir müssen uns die Schlußfolgerungen der Staatsanwaltschaft gefallen lassen und es abwarten, welchen Eindruck sie auf die bewährte Einsicht der Herren Geschwornen machen werden. Vorläufig wolle der hohe Gerichtshof berücksichtigen, daß wir uns in einer außerordentlichen Lage befinden, und von diesem Gesichtspunkt aus unser außergewöhnliches Verhalten beurtheilen.“

„So schreiten wir zur Beweisaufnahme,“ fuhr der Präsident fort. „Gerichtsdiener, führen Sie die Zeugen ein!“

Nach kurzer Abwesenheit kehrte der Gerichtsdiener mit drei Personen in den Saal zurück. Es waren zwei Männer und eine ältere Frau, welche, als sie Joseph auf der Anklagebank erblickte, die heißesten Thränen vergoß. Unter den Männern ging der vom Schulzenhofe entlaufene Knecht voran, sichtlich bemüht, eine freie Haltung zu bewahren, und doch nicht fähig, den Blick vom Boden zu erheben. Sein Begleiter war ein in der Nähe des Buchenwäldchens wohnender Holzschläger, dessen kolossaler Körperbau nicht minder die allgemeine Aufmerksamkeit erregte, als seine treuen, von weißen Locken umrahmten Gesichtszüge für ihn einnahmen. Als er des Schulzen ansichtig wurde, schritt er, den Gerichtsdiener wie ein Kind zur Seite schiebend, auf ihn zu, drückte ihm kräftig die Hand und mit einer Stimme, die, so rauh sie war, das tiefste Mitgefühl durchtönen ließ, redete er ihn tröstend an: „Gott segne Euch, Schulze, in dieser schweren Stunde. Laßt nur den Muth


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