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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Hand bedeckend über die stieren Augen, und die üppige Gestalt sah für einen Moment aus, als bedürfe sie einer Stütze, um nicht zusammenzubrechen.

Aber diese junge Frau hatte sich ja zeitlebens in der Selbstbeherrschung vor Zeugen geübt, um des Nimbus der Gottseligkeit willen. Sie hatte gelernt, die Augen fromm und madonnenhaft zum Himmel aufzuschlagen, ob auch ihr Herz in Groll und Galle schwoll; sie konnte mit tiefer Inbrunst einer Predigt zuhören, während ihre Seele bei einer neuen Toilette verweilte; sie sprach, wo sie konnte, empört und mit dem Roth der Entrüstung auf den Wangen über das sündhafte Treiben der Welt, über den nicht zu verzeihenden Mangel an Bibellesen und las heimlich die schlüpfrigsten französischen Romane.

Diese unglaubliche Biegsamkeit und Elasticität ihres äußeren Menschen hatte sich in entscheidenden Momenten stets bewährt, und auch jetzt bedurfte es kaum einiger Secunden, um ihr die vollständige Fassung zurückzugeben. Sie schlug das Buch zu und ein vortrefflich gelungener Zug der Enttäuschung spielte um ihre blassen Lippen.

„Es ist wirklich eine elende, alte Scharteke!“ rief sie nach dem Professor hinüber, während sie wie in halber Zerstreutheit das Buch in ihre Tasche schob. „Ich finde es sehr albern von Ihnen, Caroline, daß Sie um dieser Lappalie willen einen solchen Lärm veranlassen!“

Sie hat diesen Lärm veranlaßt?“ frug der Professor rasch hinzutretend – er bebte vor innerer Aufregung. „Ich glaubte, Du habest mich zu Hülfe gerufen, um dieses junge Mädchen vor Zeugen des Silberdiebstahls zu überführen! … Willst Du wohl die Gewogenheit haben, Deine nichtswürdige Anschuldigung hier auf dieser Stelle zu motiviren?“

„Du siehst, daß ich augenblicklich außer Stande bin –“

„Augenblicklich?“ unterbrach er sie heftig. „Du wirst dies kränkende Wort zurücknehmen und der Beleidigten in meiner und Heinrich’s Gegenwart sofort volle Satisfaction geben!“

„Mit tausend Freuden, lieber Johannes! Es ist ja Christenpflicht, einen Irrthum zu bekennen und gut zu machen… Meine beste Caroline, verzeihen Sie mir, ich habe Ihnen Unrecht gethan!“

„Und nun gieb das Buch zurück!“ befahl der Professor kurz und unerbittlich weiter.

„Das Buch?“ frug sie mit ihrer völlig wiedergewonnenen, kindlich unschuldigen Miene. „Ach, liebster Johannes, es gehört ja gar nicht der Caroline.“

„Wer sagt Dir denn das?“

„Nun, ich habe flüchtig den Namen der alten Tante Cordula darin gelesen! … Wenn Jemand darüber zu verfügen hat, so bist Du es, als Erbe ihrer Mobilien und Bücher… Es hat an sich offenbar nicht den geringsten materiellen Werth – wie es scheint, ist es eine Abschrift alter Dichtungen… Was wolltest Du mit dem sentimentalen Zeug anfangen? Aber ich bin eine Freundin solcher alten, vergilbten Bücher – für mich ist es trotz seiner Unsauberkeit und Plumpheit eine Art Cabinetstück… Bitte, schenke es mir!“

„Vielleicht, nachdem ich’s gesehen haben werde,“ versetzte er kalt und achselzuckend und streckte die Hand aus, um das Buch in Empfang zu nehmen.

„Aber es würde ja dadurch gerade einen erhöhten Werth für mich erhalten, wenn Du es mir unbesehen überlassen wolltest,“ bat sie mit lieblich schmeichelnder Stimme weiter. „Müßte ich nicht denken, Du hättest materielle Rücksichten bei diesem ersten und einzigen Geschenk, um das ich Dich bitte?“

Eine dicke Zornader schwoll auf der Stirn des Professors. „Ich erkläre Dir hiermit, daß es mir sehr gleichgültig ist, wie Du über dieses mein Verhalten denkst,“ sagte er schneidend. … „Ich verlange unter allen Umständen das Buch zurück. … Du bist mir sehr verdächtig! Die Abschrift irgend einer alten, sentimentalen Dichtung kann unmöglich die ‚vollendete Weltdame‘ plötzlich so schreckensbleich gemacht haben.“

Mit diesen Worten vertrat er der Regierungsräthin den Weg; ihr ungewisser Blick, der mit Blitzesschnelle die Länge des Corridors durchmaß, und eine rasche Bewegung verriethen unwiderleglich, daß sie das Weite suchen wolle. Der Professor ergriff ihre Hand und hielt sie fest.

Felicitas gerieth außer sich bei dem Gedanken, daß er seine Absicht erreichen werde. Es war ihr schrecklich, das Buch im Besitz der abscheulichen Heuchlerin zu wissen, aber sie mußte sich selbst sagen, daß es dort so sicher sei wie in ihren Händen und jedenfalls heute noch für immer spurlos verschwinden werde. Sie stellte sich deshalb an die Seite der Regierungsräthin, um ihr die Flucht zu erleichtern.

„Ich bitte, Herr Professor, lassen Sie der gnädigen Frau das Buch!“ bat sie so ernst und ruhig, als es ihr in diesem kritischen Moment möglich war. „Sie wird sich beim Lesen desselben völlig überzeugen, daß es voreilig war, irgend eine Kostbarkeit in dem kleinen Kasten zu vermuthen.“

Der erste mißtrauische Blick fiel aus den stahlgrauen Augen auf ihr Gesicht – es war, als träfe sie ein Messerstich; sie wurde flammendroth und schlug die Augen nieder.

„Also auch Sie lassen sich zu einer Bitte herbei?“ fragte er scharf und sarkastisch. „Da handelt es sich ganz gewiß um mehr, als um ‚sentimentales Zeug‘! … Zudem erinnere ich mich, daß meine Cousine vorhin behauptete, Sie sähen sehr ängstlich aus, und ich gestehe, daß ich dieselbe Bemerkung gemacht habe. … Ich frage Sie jetzt auch auf’s Gewissen: Was enthält das Buch?“

Das war ein entsetzlicher Moment. Felicitas rang mit sich selbst; sie öffnete die Lippen, aber kein Laut wurde hörbar.

„Bemühen Sie sich nicht!“ sagte er ironisch lächelnd zu dem jungen Mädchen, während er die Hand der Regierungsräthin fester zusammenpreßte, da sie verschiedene Manipulationen machte, um sich allmählich loszuwinden. „Sie können mitleidslos, rauh und entsetzlich aufrichtig sein, aber lügen können Sie nicht. … Das Buch enthält also keine Dichtungen, sondern irgend eine Wahrheit, eine Thatsache, die ich um keinen Preis wissen soll. … Wirst Du endlich die Freundlichkeit haben, Adele, mir mein Eigenthum, wie Du es selbst genannt hast, herauszugeben?“

„Mache mit mir, was Du willst, aber bekommen wirst Du es nie!“ rief mit verzweiflungsvoller Entschiedenheit die Regierungsräthin, die in ihrer Angst gänzlich aus der Rolle des harmlos bittenden Kindes fiel. Sie machte abermals verzweifelte Anstrengungen, sich loszureißen, und es gelang – sie floh wie gejagt; aber da stand Heinrich mit ausgespreiteten Armen und Beinen wie eine Mauer und füllte den schmalen Corridor völlig aus. Sie prallte zurück. „Unverschämter Mensch, gehen Sie mir aus dem Wege!“ schrie sie auf und stampfte außer sich mit dem Fuße.

„Ja wohl, gleich, gnädige Frau Regierungsräthin,“ entgegnete er ruhig und höflich, ohne jedoch im Geringsten seine Stellung zu verändern; „geben Sie nur erst das Büchelchen her, nachher will ich schon gern auf die Seite treten!“

„Heinrich!“ rief Felicitas herbeispringend; sie rüttelte verzweiflungsvoll an seinem Arme. „Ach, das hilft Dir nichts, Fee’chen!“ schmunzelte er, als seine alten Knochen unter den ohnmächtigen Anstrengungen des jungen Mädchens eisenfest verharrten. „Ich bin nicht so auf den Kopf gefallen, wie Du denkst – Du möchtest aus purer Gutmüthigkeit gern einen dummen Streich machen, und das leide ich nicht!“

„Laß die Dame vorüber, Heinrich!“ gebot der Professor ernst. „Aber hiermit sollst Du wissen, Adele, daß ich ohne Weiteres den einzigen Weg einschlagen werde, der mir zu meinem Eigenthum verhilft! Es kann mir Niemand verwehren, anzunehmen, daß dies Buch wichtige Enthüllungen über den Nachlaß der Tante enthält – möglicherweise giebt es Aufschluß über verborgene Gelder“ –

„Nein, nein!“ betheuerte Felicitas, ihn unterbrechend.

„Es ist meine Sache, zu denken, was ich will!“ versetzte er streng und unerbittlich, „und Sie sowohl wie Heinrich werden mir vor Gericht bezeugen, daß diese Dame hier ein vielleicht sehr bedeutendes Erbtheil meiner Familie unterschlagen hat.“

Die Regierungsräthin fuhr empor, als habe sie eine Natter gebissen. Sie warf einen wilden Blick auf ihren unbeugsamen Peiniger, und jetzt kam die rasende Leidenschaftlichkeit über sie, mit der sie Taschentücher zerriß und Tassen zerschmetterte. Sie riß das Buch aus der Tasche und warf es ihm unter gellendem Hohngelächter vor die Füße.

„Da nimm es, Du eigensinniger Thor!“ rief sie, und ihr ganzer Körper bebte, als schüttele sie ein Krampf. „Ich gratulire Dir zu der vortrefflichen Acquisition! … Trage die Schande, von der es Dir erzählen wird, mit Würde!“

Sie flog durch den Corridor, die Treppe hinab und warf unten die Zimmerthüre schmetternd in das Schloß.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_548.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)