Seite:Die Gartenlaube (1867) 534.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Weg über die Dächer zurück, dann den letzten eilenden Schritt über die Schwelle des Hellwig’schen Hauses, und sie war frei, sie war entflohen auf Nimmerwiedersehen!

Sie raffte das Buch auf und schob es in ihre Tasche – aber da stand sie mit zur Flucht gehobenem Fuß und zurückgehaltenem Athem einen Moment wie versteinert – draußen im Vorsaal war eine Thür zugeschlagen worden, und jetzt schritt es rasch auf das Wohnzimmer zu. Sie floh in den Vorbau und riß die Glasthüre auf – der Sturm fuhr herein und schleuderte ihr einzelne große Regentropfen in das Gesicht. … Ihre Augen irrten über das Dächerquadrat, da hinüber kam sie nicht mehr, dort mußte sie gesehen werden – ihre einzige Rettung war ein augenblickliches Versteck.

Zwischen der Vorbauwand und den Blumentöpfen lief ein schmaler, unbesetzter Raum empor. Felicitas flüchtete hinaus und erfaßte droben taumelnd und mit versagenden Blicken die Eisenstange des Blitzableiters, der sich über den First hinzog. Sie stand hoch über dem Vorbau. … Hei, wie der Sturm die zarte Gestalt packte und schüttelte, wie er in erneutem Ingrimm versuchte, sie hinabzustoßen in die Straße, die wie ein dunkler Spalt jenseits herauf klaffte. … Ueber den Himmel hin brausten die schwarzen Gewitterwolken – war kein Engel droben über der kochenden, gährenden Wetterwand, der seine Hände schirmend herniederstreckte auf die mit der furchtbarsten Gefahr Ringende?

Wer es auch sein mochte, der in diesem Augenblick heraustrat auf die Galerie, das Mädchen da droben stand als Diebin gebrandmarkt vor ihm. … Sie war in verschlossene Räume eingedrungen – die ganze Welt nannte das Einbruch; schon hatte man die Anklage, daß sie um den Silberdiebstahl wisse, auf ihr Haupt geschleudert – jetzt lag ihre Schuld sonnenklar am Tage! Sie wanderte nicht mehr freiwillig über die Schwelle des alten Kaufmannshauses, sie wurde hinausgestoßen als Entehrte, und wie Tante Cordula mußte sie fortan mit festgeschlossenen Lippen Schimpf und Schmach unverschuldet durch’s Leben tragen. … War es da so schrecklich, wenn sie sich dem Arm des Sturmes willig überließ und nach wenigen qualvollen Augenblicken ihr junges Leben drunten auf dem Straßenpflaster aushauchte? …

Mit wirren Blicken starrte sie hinab auf das vorspringende Dach des Vorbaues – die Person unten blieb nicht vor der Glasthür stehen – Felicitas’ letzte verzweifelte Hoffnung – sie schritt, trotz Sturm und Wetter, weiter und weiter auf der Galerie, und jetzt wurde die Gestalt sichtbar – es war der Professor. … Hatte er die fliehenden Schritte des Mädchens gehört? – Noch kehrte er ihr den Rücken, noch war es möglich, daß er zurückging, ohne sie gesehen zu haben – aber da kam der Sturm, der Verräther; er zwang den Professor sich umzudrehen und ließ in dem Augenblick Haar und Gewand der Geflüchteten wild aufflattern – und er erblickte die Gestalt mit den krampfhaft um das Eisen geschlungenen Armen und dem geisterhaften Gesicht, das aus den wogenden Haarmassen verzweiflungsvoll auf ihn niedersah.

Einen Augenblick war es, als gerinne ihr unter dem entsetzten Blick, der sie traf, das Blut in den Adern; dann aber schoß es siedend nach dem Kopfe und raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit.

„Ja, da steht die Diebin! Holen Sie das Gericht, holen Sie Frau Hellwig! Ich bin überführt!“ rief sie unter bitterem Auflachen hinab. Sie ließ mit der Linken die Eisenstange los und warf das Haar zurück, das ihr der Sturm über das Gesicht peitschte.

„Um Gotteswillen,“ schrie der Professor auf, „fassen Sie die Stange – Sie sind verloren!“

„Wohl mir, wenn’s vorüber wäre!“ klang es schneidend durch das Brausen und Pfeifen.

Er sah den schmalen Raum nicht, auf welchem Felicitas emporgeklimmt war. In wenig Augenblicken hatte er die Blumentöpfe herabgeschleudert und sich einen Weg gebahnt, und da stand er plötzlich neben ihr. Er umschlang mit unwiderstehlicher Kraft die widerstrebende Gestalt und zog sie herab in den Vorbau – krachend fiel die Thür hinter ihnen in das Schloß.

(Fortsetzung folgt.)




Nach vierzig Jahren.
Von Ferdinand Stolle.


Sieh’ das Dörflein dort, das holde,
Weich bespült von blauer Fluth –
Wie es in dem Blüthengolde
Seiner Pfirsichbäume ruht;

Oder wenn darum sich legen
Seine Reben, reich umblaut,
Und es wie ein Gottessegen
Dankbar auf zum Himmel schaut.

Friedlich und anmuthig ruht an den Ufern der sanftblauen Elbe und umarmt von Wald und Weinberg ein Dörflein, das mit zu den wenigen auserwählten Ortschaften gehört, welche einst für einen poesiebegnadeten Liebling der Nation zum stillen und umfriedeten Asyl ausersehen waren und die von der dankbaren Nachwelt gleichsam eine poetische Weihe erhalten haben. Ja, von des erwähnten Dörfchens weinumrankten Höhen schweifte zwei Sommer lang das leuchtende Jünglingsauge Friedrich Schiller’s über Berg und Thal und von diesen Höhen schleuderte er sein

„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“[WS 1]

zündend in das Herz des deutschen Volks. Wem wäre darum nicht der Name „Loschwitz“ erinnerungsrosig und poetisch umgrünt durch die Seele geklungen? –

Das Frühlingsgewitter hatte sich über Berg und Wald zurückgezogen. In der Ferne verrollte der Donner. Blumen und Kräuter, von erquickendem Platzregen überrauscht, dufteten stärker und die ihrem Versteck entschlüpften Vögel durchjubelten von Neuem den sich klärenden Himmel. Da durchbrach, ein kostbar Juwel, die Nachmittagssonne die Wolken im Abend und rollte ihre goldenen Wellen über die Frühlingslandschaft, auf Baum und Strauch und in den Augen der Blumen Diamanten, Rubinen und Smaragden entzündend.

Aus einem bescheidenen Winzerhause dort auf derselben Höhe, wo heut das freundliche Schlößlein „zum Burgberg“ weit hinausschaut über Berg und Thal, traten zwei Jünglinge in den angehenden zwanziger Jahren. Sie hatten, die Berge durchwandernd, vom Gewitter überrascht, in dem Winzerhäuschen Schutz gesucht. Jetzt waren sie wieder herausgetreten zur herzerquickenden Rundschau. Da ruhten Berg und Thal in frischester Farbenpracht und goldenster Beleuchtung. Alles lachte und blühte. Rechts und links fröhliches Grün der Rebe. Zu Füßen, ein umblühtes Idyll, das freundliche Loschwitz, aus welchem hie und da bereits die blauen Wölkchen zur Abendmahlzeit emporstiegen. Die Elbe als Silbergürtel das Thal umschließend. Auf den Häuptern der Berge und jenseits des Flusses schweigendes Waldgrün und darüber hinaus unabsehbare, von breiten gelben Rübsenbändern durchschnittene fruchtbare Fluren bis zu den im Nebelduft verlorenen böhmischen Gebirgen, als deren erhabenste Krone der Schneeberg aus weiter Ferne daher schaute. Unfern zur Rechten die Thürme von Sachsens Hauptstadt.

Unsere jungen Freunde, Bernhard und Reinhold mit Namen, standen lange im Anschauen des reichen Frühlingsbildes versunken. Sie waren, die Ferien benutzend, als deutsche Studenten den Frühling durchwandert, um lachende Landschaftsbilder, Blumen, Humor und Poesie sich einzusammeln für die späteste Erinnerung. Der gefällige Winzer, welcher an den beiden jungen Leuten Gefallen zu finden schien, trug einen Tisch vor das kleine Haus nebst zwei Holzstühlen.

„Hier, meine Herren,“ sagte er, „können Sie sich’s bequem machen und die Aussicht ansehen, so lange es Ihnen beliebt.“

Dankbar nahmen die Jünglinge Platz. Wie glücklich waren sie! Noch floß das Blut leicht und wohlig durch ihre Adern; noch lebten sie in der unvergeßlich schönen Zeit, wo man aus sorgenloser, froher Brust das Gaudeamus lebensvoll ertönen laßt. Nur wenn sie des zerrissenen und politisch ohnmächtigen Vaterlandes gedachten, zog tiefes Weh durch ihr deutsches Herz.

„Fürwahr,“ sprach Bernhard, der Aeltere, ein der Theologie

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Don Carlos III,10 / Marquis von Posa (1787).
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_534.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)